Der »Pilgrim«, der bis jetzt direct auf das Wrack zuhielt, ward durch eine leichte Bewegung des Steuers ein wenig abgelenkt.
Die Brigg-Goëlette befand sich jetzt etwa noch eine Meile von der Trift entfernt. Neugierig betrachteten sie alle Matrosen. Vielleicht barg sie eine werthvolle Ladung, welche man auf den »Pilgrim« herüber schaffen konnte? Bekanntlich gehört der dritte Theil solch’ geborgener Güter den Rettern derselben, und im Falle, daß jene Ladung nicht havarirt war, hätten die Mannschaften noch zuletzt, wie man sagt, eine »gute Hochfluth« gemacht. Das wäre doch noch ein Trost gewesen nach dem kläglichen Fischzuge.
Eine Viertelstunde später tanzte die Seetrift kaum eine halbe Meile von dem »Pilgrim« auf und ab.
Es war wirklich ein Fahrzeug, dessen Steuerbord nach außen und oben lag. Gekentert bis zur niederen Schanzkleidung, hätte man sich auf seinem Deck schwerlich zu halten vermocht. Von seiner Bemastung sah man so gut wie nichts mehr. An den Jungfern hingen noch einige gesprengte Taue und die zerrissenen Pardunen der Eselsköpfe. An der Steuerbordwand gähnte eine weite Oeffnung zwischen dem Rippenwerk und den eingestoßenen Planken.
»Dieses Schiff ist angesegelt worden, rief Dick Sand.
– Das ist nicht zu bezweifeln, entgegnete Kapitän Hull, doch bleibt es ein Wunder, daß es nicht sofort gesunken ist.
– Wenn hier ein Zusammenstoß stattfand, bemerkte Mrs. Weldon, so darf man wohl hoffen, daß die Mannschaften dieses Schiffes von dem anderen, welches dasselbe übersegelte, aufgenommen wurden.
– Ja, wir wollen das hoffen, Mistreß Weldon, belehrte sie der Kapitän Hull, wenn die Leute nicht auf ihren eigenen Booten Rettung gesucht haben, im Falle das andere Schiff nach der Collision seinen Kurs sogleich fortsetzte – was leider dann und wann vorkommt!
– Wäre es möglich! Ein solcher Beweis grausamster Unmenschlichkeit, Herr Hull!
– Ja, Mistreß Weldon, – es ist, Gott sei es geklagt, so wie ich Ihnen sage!
– Bezüglich der Besatzung des Schiffes wird meine Ansicht, daß sie dasselbe verlassen, noch dadurch bestärkt, daß ich kein einziges Boot mehr sehe, und wenn die Leute nicht doch etwa aufgenommen wurden, so möchte ich eher glauben, daß sie den Versuch gemacht haben, irgendwo an Land zu kommen. Freilich ist bei der ungeheuren Entfernung Amerikas und der Oceanischen Inseln kaum anzunehmen, daß ein solcher Versuch gelingen könne.
– Vielleicht, sagte Mrs. Weldon, wird der Schleier nie von diesem Geheimnisse gehoben! Immerhin wäre es möglich, daß sich noch Einer oder der Andere der Mannschaft an Bord befände.
– Das ist nicht wohl anzunehmen, Mistreß Weldon, erwiderte Kapitän Hull; unsere Annäherung wäre sicher schon bemerkt worden und man würde uns ein Signal geben. Doch wir wollen uns selbst überzeugen. Luv’ an, Bolton, luv’ an!« rief er dem Mann am Steuer zu, und wies mit der Hand nach der einzuschlagenden Richtung.
Nur drei Kabellängen von dem Wrack befand sich jetzt der »Pilgrim« und man konnte kaum noch zweifeln, daß dasselbe vollständig verlassen sei.
Eben da machte Dick Sand aber ein Zeichen mit der Hand, die Anderen zum Stillschweigen aufzufordern.
»Hört! Hört!« sagte er.
Jeder horchte gespannt.
»Mir schien, ich hörte ein Gebell!« rief Dick Sand.
Wirklich erscholl aus dem Innern des Schiffsrumpfes ein entferntes Bellen. Darin befand sich also ohne Zweifel ein noch lebender Hund, der wohl eingesperrt sein mochte, denn möglicher Weise waren die Luken hermetisch geschlossen. Letztere konnte man noch nicht sehen, weil das Verdeck des verunglückten Fahrzeuges nach der anderen Seite gewendet lag.
»Und wäre auch nur ein Hund darauf, Herr Hull, erklärte Mrs. Weldon, so werden wir diesen retten!
– Ja…. ei ja!…. rief der kleine Jack erfreut…. den wollen wir retten!…. Ich werde ihm zu fressen geben…. ach, er wird uns so lieb haben…. Mama, wart’, ich will ihm ein Stückchen Zucker holen!…
– Bleib’ nur hier, mein Kind, antwortete Mrs. Weldon lächelnd. Ich glaube eher, das arme Thier wird dem Hungertode nahe sein und eine gute Pastete Deinem Stückchen Zucker vorziehen.
– Nun wohl, so gebe man ihm meine Suppe, rief der kleine Jack schnell entschlossen, ich werde sie entbehren können!«
Jetzt ließ sich das Bellen deutlicher vernehmen. Nur dreihundert Schritte trennte die beiden Fahrzeuge. Fast gleichzeitig erschien ein großer Hund über der Schanzkleidung des Steuerbords, an der er sich anklammerte, während er heftiger bellte als je zuvor.
»Howik, wandte sich Kapitän Hull an den Quartiermeister des »Pilgrim«, laß beilegen und das kleine Boot aussetzen.
– Halt aus, mein Hund, halt aus!« rief der kleine Jack dem Thiere zu, das ihm durch halbgedämpftes Bellen zu antworten schien.
Das Segelwerk des »Pilgrim« wurde sofort so gerichtet, daß das Schiff auf eine halbe Kabellänge von dem Wrack ziemlich unbeweglich stehen blieb.
Das Boot ward klar gemacht und Kapitän Hull, Dick Sand nebst zwei Mann nahmen darin Platz.
Noch immer bellte der Hund. Er versuchte sich am Barkholz festzuhalten, kletterte aber immer wieder auf das Verdeck herab. Man konnte glauben, daß sein Gebell sich nicht allein an Diejenigen richte, welche er auf sich herankommen sah. Galt es also vielleicht doch etwaigen Passagieren und Matrosen in dem gekenterten Rumpfe?
»Sollte sich an Bord doch noch ein überlebender Schiffbrüchiger vorfinden?« fragte sich Mrs. Weldon.
Nach wenigen Ruderschlägen langte das Boot an dem auf der Seite liegenden Rumpfe an.
Plötzlich aber veränderte sich das ganze Benehmen des Hundes.
Auf sein erstes Anschlagen, welches Rettung und Hilfe anzulocken schien, folgte ein wüthendes Bellen. Offenbar schäumte das Thier in heftigem Zorn.
»Was mag der Hund nur haben!« sagte Kapitän Hull, während das Boot um das Hintertheil des Schiffes herumfuhr, um an dem unter Wasser liegenden Theil des Verdeckes anzulaufen.
Kapitän Hull sowohl konnte bemerken, wie man es auch an Bord des »Pilgrim« selbst gewahr wurde, daß die Wuth des Hundes plötzlich ausbrach, als Negoro seine Küche verließ und sich nach dem Verdeck begab.
Kannte der Hund den Koch schon und erkannte er ihn etwa wieder? Das war doch kaum anzunehmen.
Inzwischen hatte das Boot den Stern des Fahrzeugs passirt. Letzteres trug an demselben nur den Namen: »Waldeck«.
»Waldeck«, aber keinen Namen eines Heimathafens. Aus der Bauart des Rumpfes und anderer gewissen Details, welche das Auge eines Seemannes sogleich wahrnimmt, hatte Kapitän Hull mit Sicherheit erkannt, daß das Schiff von amerikanischer Construction war. Sein Name bestätigte übrigens diese Voraussetzung. Und jetzt – war dieser unbehilfliche Rumpf das Einzige, was von einer großen Brigg von fünfhundert Tonnen übrig war.
Am Vordertheil des »Waldeck« bezeichnete ein großes Leck die Stelle, an der ein Zusammenstoß stattgefunden hatte. In Folge des Umschlagens des Rumpfes blieb diese Oeffnung fünf bis sechs Fuß über Wasser, wodurch es sich erklärte, daß die Brigg nicht weiter sank.
Auf dem Verdeck, welches der Kapitän nun vollständig übersehen konnte, befand sich Niemand.
Der Hund hatte die Schanzkleidung verlassen und glitt bis nach der offenstehenden großen Luke, von wo er bald nach außen, bald nach dem inneren Schiffsraume hin bellte.
»Das Thier ist sicher nicht allein an Bord! meinte Dick Sand.
– Nein, gewiß nicht!« bemerkte auch der Kapitän.
Das Boot fuhr nun längs dem fast halb versenkten Barkholze des Backbords hin. Bei einem einigermaßen starken Seegange wäre der »Waldeck« unzweifelhaft binnen wenig Augenblicken versunken.
Das Verdeck der Brigg erschien wie abgefegt von einem Ende zum anderen. Vom Großmast und dem Fockmast standen nur noch Stümpfe, da beide etwa zwei Fuß unter der Mars abgebrochen waren und bei ihrem Sturze die Wanten, die Puddings und überhaupt die Takellage mit sich gerissen hatten. Soweit indeß das Auge reichte, konnte man keinerlei Seetrift weiter in der Nähe des »Pilgrim« entdecken, was darauf hinzudeuten schien, daß die Katastrophe sich schon vor mehreren Tagen ereignet haben mußte.