Dick Sand kannte bei seinem Vertrautsein mit den Ergebnissen der neuesten Geographie schon Alles, was man von Kazonnde wußte. Die Entfernung zwischen San Pablo de Loanda und diesem Orte überstieg nicht 400 Meilen, und folglich lagen höchstens 250 Meilen zwischen demselben und dem Lager an der Coanza. Dick Sand stellte seine Wahrscheinlichkeitsrechnung auf mit Zugrundelegung der von der kleinen Gesellschaft unter Harris’ Führung zurückgelegten Wegstrecke. Unter gewöhnlichen Verhältnissen konnte der Marsch dorthin also nur zehn bis zwölf Tage in Anspruch nehmen. Verdoppelte er diese Zeit im Hinblick auf eine schon durch weite Wege erschöpfte Karawane, so schätzte er die Dauer der Reise von der Coanza bis Kazonnde auf höchstens drei Wochen. Gern hätte Dick Sand von dem, was er wußte, auch Tom und den Uebrigen Mittheilung gemacht. Es mußte ja eine Art Trost für sie darin liegen, zu wissen, daß sie nicht bis in das Herz Afrikas, in jene verderbenschwangeren Gegenden geschleppt würden, aus denen eine Rückkehr unmöglich erscheint. Einige im Vorübergehen ihnen zugeflüsterte Worte hätten ja hingereicht, sie davon in Kenntniß zu setzen. Sollte es ihm gelingen, diese kurze Mittheilung zu machen?
Tom und Bat – der Zufall hatte Vater und Sohn vereinigt – sowie Acteon und Austin befanden sich, zu Zwei und Zwei aneinander gefesselt, an der rechten Seite des Lagers, wo ein Havildar und ein Dutzend Soldaten sie bewachten.
Da sich Dick Sand freier zu bewegen vermochte, beschloß er, die Entfernung, welche ihn von der etwa fünfzig Schritt entfernten Gruppe mit seinen Gefährten trennte, allmälig und scheinbar ohne Absicht zu verringern.
Wahrscheinlich errieth der alte Tom Dick Sand’s Gedanken. Ein leise gesprochenes Wort genügte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sie verstummten, lauschten aber gespannt mit Augen und Ohren.
Ohne seine Absicht zu verrathen, hatte Dick Sand weiter fünfzig Schritt zurückgelegt. Er befand sich den Anderen jetzt so nahe, daß er sich Tom durch lautes Sprechen wohl hätte verständlich machen, ihm den Namen Kazonnde zurufen und die wahrscheinliche Dauer des Marsches mittheilen können; doch erschien es ihm rathsamer, womöglich noch weitere Aufklärung zu erlangen und sich nach deren Ausfall mit ihnen über die während der Reise zu beobachtende Haltung zu verständigen. Er näherte sich jenen nach und nach weiter. Schon klopfte das Herz ihm lauter, er befand sich nur noch wenige Schritte von dem erwünschten Ziele, als der Havildar, dem über seine Absichten offenbar ein Licht aufgegangen war, auf ihn zustürzte. Der Ruf des Wüthenden zog schnell zehn Soldaten herbei, welche Dick Sand mit roher Faust zurückführten, während Tom und die Seinigen nach der anderen Seite des Lagers getrieben wurden.
Dick Sand hatte sich erbittert auf den Havildar geworfen und es gelang ihm, dessen Gewehr, das er ihm fast entrissen hätte, wenigstens untauglich zu machen, als ihn sechs oder sieben Soldaten mit einem Male überfielen und ihn nöthigten, seine Beute wieder aufzugeben. In ihrer Wuth hätten ihn diese sicherlich umgebracht, wenn nicht einer der Karawanen-Führer, ein hochgewachsener, wildblickender Araber, dazwischen getreten wäre. Dieser Araber war niemand Anderer als der von Harris erwähnte Chef Ibn Hamis selbst. Er sprach nur wenige, Dick Sand völlig unverständliche Worte, welche die Soldaten veranlaßten, ihren Gefangenen frei zu geben und sich zu entfernen.
Dieser Zwischenfall lieferte einerseits den Beweis, daß ein bestimmter Befehl vorliegen müsse, Dick Sand jede Verbindung mit den Seinigen abzuschneiden, und andererseits den, daß sein Leben unbedingt geschont werden solle. Von wem Anderen konnten diese Anordnungen aber herrühren, wenn nicht von Harris oder Negoro?
Eben jetzt – am 19. April, neun Uhr des Morgens – erklangen die dumpfen Töne der »Kudu«-Hörner3 und schlugen die Tambours einen Wirbel. Die Rast ging zu Ende.
Chefs, Soldaten, Träger, Sklaven, Alle waren sofort auf den Füßen. Mit Gepäck beladen, bildeten sich einzelne Gruppen Gefangener je unter einem Havildar, der eine Art grellfarbiger Fahne entrollte.
Das Zeichen zum Aufbruch ward gegeben.
Bald erklang ein monotoner Gesang, doch es waren die Besiegten, nicht die Sieger, welche ihn anstimmten.
Der Inhalt dieser Gesänge lief auf eine Drohung hinaus, in welcher der naive Sklaven-Glaube sich widerspiegelte.
»Ihr habt mich zur Küste hinabgeschleppt – das war etwa der Sinn des Textes – doch wenn ich einst todt bin, werd’ ich kein Joch mehr tragen und wiederkommen, Euch zu tödten!«
Fußnoten
1 Eine dortzulande sehr häufige Art kleiner, als Münze dienender Muscheln.
2 Cameron berichtet wie folgt: »Zur Erlangung jener fünfzig Frauen, deren Eigenthümer Alvez sich nannte, wurden nicht weniger als zehn Dörfer zerstört, zehn Dörfer mit je 100 bis 200 Seelen, in Summa 1500 Eingeborne umgebracht; Einzelnen mag es wohl gelungen sein, zu flüchten; die Mehrzahl aber – ja, fast Alle – waren entweder in den Flammen umgekommen, bei Vertheidigung ihrer Angehörigen getödtet worden, oder in den Dschungeln langsam durch Hunger gestorben, wenn nicht wilde Thiere ihren Leiden ein schnelles Ziel setzten…. Diese Gräuelthaten, im Innern von Afrika begangen von Menschen, welche sich damit brüsten, Christen zu sein und sich noch immer Portugiesen nennen, dürften den Bewohnern civilisirter Länder geradezu unglaublich erscheinen. Unmöglich kann die Regierung von Lissabon Kenntniß haben von den Grausamkeiten jener Leute, welche ihre Flagge führen und sich rühmen, ihre Staatsangehörigen zu sein,«
(Tour de mondes.)
NB. In Portugal hat man allerdings gegen obige Behauptungen Cameron’s protestirt.
3 »Kudu«, der Name eines in Afrika heimischen Wiederkäuers.
Achtes Capitel.
Einige Anmerkungen Dick Sand’s.
Obwohl das Gewitter des vergangenen Tages ausgetobt hatte, blieb die Witterung doch stets sehr trübe. Es war jetzt nämlich die Zeit der »Masika«, d.i. die zweite Periode der Regenzeit unter dieser Zone des afrikanischen Himmels. Noch eine, zwei oder drei Wochen drohte Regen mindestens während der Nächte, ein Umstand, der die Mühsale der Karawane nur zu steigern geeignet schien.
Sie brach an diesem Tage bei bedecktem Himmel auf und wandte sich von dem Ufer der Coanza ziemlich genau nach Osten.
Etwa fünfzig Soldaten marschirten an der Spitze, je hundert an den beiden Seiten des Zuges, die übrigen als Nachtrab hinter diesem. Eine Flucht wäre für die Gefangenen, selbst ohne ihre Fesseln, gewiß sehr schwierig gewesen. Männer, Frauen und Kinder wanderten bunt durcheinander und die Havlidars trieben sie mit Peitschenhieben zur Eile an. Unter jenen schleppten sich unglückliche Mütter dahin, die, während sie ein kleines Kind nährten, mit dem freibleibenden Arme noch ein zweites trugen. Andere zogen die kleinen nackten und barfüßigen Wesen über das spitze Gras des Bodens hinter sich her.
Der Chef der ganzen Karawane, jener wilde Ibn Hamis, der bei Dick Sand’s Streite mit seinem Havildar intervenirte, überwachte die ganze Menschenheerde und war bald an der Spitze, bald am Ende des langen Zuges. Kümmerten sich seine Agenten, wie er selbst, auch blutwenig um die Leiden ihrer Gefangenen, so mußten sie doch auf die Soldaten, welche eine Lohnzutage verlangten, oder auf die Pagazis, wenn diese ausruhen wollten, entschieden mehr Rücksicht nehmen. Dadurch entstanden wiederholt Zänkereien, welche nicht selten zu brutalen Thätlichkeiten ausarteten. Die Sklaven aber hatten unter dieser stets gereizten Stimmung der Havlidars nur doppelt zu leiden. Man hörte nichts Anderes mehr als Drohungen von der einen und Klagerufe von der anderen Seite, und Diejenigen, welche in den letzten Reihen marschirten, gingen über einen Erdboden, den das Blut ihrer Vordermänner röthete.