»Sind bei dieser Katastrophe wirklich einige Unglückliche mit dem Leben davon gekommen, so dürfte sie der Hunger oder der Durst schon getödtet haben, denn in der Kambüse kann kein Wasser mehr sein. Wir werden an Bord also kaum etwas Anderes als Leichname antreffen!
– Nein, widersprach ihm lebhaft Dick Sand, der Hund würde nicht in dieser Weise bellen; hier sind noch lebende Wesen!«
Wie als Antwort auf die Behauptung des Leichtmatrosen glitt der Hund in’s Meer hinab und schwamm mühsam auf das Boot zu, denn er schien völlig erschöpft zu sein.
Man nahm ihn auf und er stürzte sich nicht auf ein Stück Brot, das Dick Sand ihm zunächst anbot, sondern auf einen Eimer, der ein wenig Süßwasser enthielt.
»Das arme Thier stirbt fast vor Durst!« rief Dick Sand.
Das Boot suchte nun eine geeignete Stelle, um bequem am »Waldeck« anlegen zu können, und entfernte sich zu diesem Zwecke auf einige Faden. Der Hund schien jedenfalls anzunehmen, daß seine Retter nicht an Bord gehen wollten, denn er packte Dick an der Jacke und sein klägliches Bellen erscholl von Neuem mit gewachsener Kraft.
Man verstand ihn. Seine Pantomime, seine Sprache waren eben so deutlich, wie es die eines Menschen nur hätten sein können. Das Boot glitt noch bis zu den Ankerbalken des Backbords. Dort legten es die beiden Matrosen fest an, während Kapitän Hull und Dick Sand gleichzeitig mit dem Hunde das Verdeck bestiegen und sich nicht ohne Mühe bis zu der Luke zwischen Fock-und Großmast hinarbeiteten.
Durch diese Luke drangen Beide in den Raum ein.
Der mit Wasser halb gefüllte Raum des »Waldeck« enthielt keinerlei Waaren. Die Brigg segelte also unter Ballast – ein Ballast von Sand, der sich nach Backbord hin gesenkt hatte und dazu beitrug, das Schiff auf der Seite zu halten. Hier war demnach nichts zu bergen und zu retten.
»Niemand hier! rief Kapitän Hull.
– Niemand!« antwortete der Leichtmatrose, der bis zum Vordertheil des Raumes gegangen war.
»So steigen wir wieder hinauf!« sagte der Kapitän.
Beide erschienen wieder auf dem Deck.
Da lief der Hund auf sie zu und suchte sie nach dem Oberdeck zu locken.
Sie folgten ihm.
Dort am Carré lagen fünf Körper – ohne Zweifel fünf Leichname – auf dem Fußboden.
Kapitän Hull erkannte bei der Beleuchtung, welche die kleine Lichtöffnung gewährte, die Körper von fünf Negern.
Dick Sand lief von dem Einem zu dem Anderen und glaubte zu bemerken, daß sie noch athmeten.
»An Bord! An Bord mit ihnen!« befahl Kapitän Hull. Die beiden im Boote zurückgebliebenen Matrosen wurden herbeigerufen und halfen die Schiffbrüchigen aus dem Oberdeck herausschaffen.
Das ging zwar nicht ohne Mühe, doch zwei Minuten später lagen die fünf Schwarzen schon im Boote, ohne daß sie das Geringste von ihrer Rettung bemerkten. Eine kleine Herzstärkung und etwas vorsichtig eingeflößtes Wasser konnte sie vielleicht in’s Leben zurückrufen.
Der »Pilgrim« hielt sich in einer halben Kabellänge von dem Wrack und bald stieß das Boot wieder an das Schiff. Von der großen Raae ward ein Jölltau herabgelassen, mit dem man die leblosen Schwarzen emporhißte und sie auf dem Verdeck des »Pilgrim« bequem niederlegte.
Der Hund hatte sie begleitet.
»Ach, diese Unglücklichen! rief Mrs. Weldon aus, als sie die armen Menschen sah, welche als bewegungslose Körper vor ihr lagen.
– Sie leben, Mistreß Weldon! Wir retten sie! Ja, wir werden sie retten, jubelte Dick Sand.
– Was ist ihnen denn zugestoßen? fragte Vetter Benedict.
– Warten Sie, bis sie sprechen können, erwiderte Kapitän Hull, sie werden dann ihre Geschichte erzählen. Vor Allem wollen wir versuchen, ihnen etwas Wasser beizubringen, dem einige Tropfen Rum zugesetzt werden können.«
Dann wendete er sich um:
»Negoro!« rief er.
Bei diesem Namen sprang der Hund mit sich sträubendem Haar und halb offener Schnauze in die Höhe.
Der Küchenmeister erschien auf den ersten Anruf nicht.
»Negoro!« wiederholte Kapitän Hull.
Der Hund gab von Neuem Zeichen der Wuth.
Negoro trat aus der Küche heraus.
Kaum erschien er auf dem Deck, als der Hund sich auf ihn stürzte und ihn an der Kehle zu packen suchte.
Nur durch einen Schlag mit dem Schüreisen, das er schon deshalb mitgenommen zu haben schien, konnte er sich des Thieres erwehren, das einige Matrosen zu bändigen sich bemühten.
»Kennt Ihr diesen Hund? fragte Kapitän Hull den Küchenmeister.
– Ich? erwiderte Negoro, ich hab ihn noch nie gesehen.
– Das sieht wirklich eigenthümlich aus!« murmelte Dick Sand.
Viertes Capitel.
Die Ueberlebenden des »Waldeck«.
Noch immer blüht in großem Maßstabe der Menschenhandel an den äquinoctialen Küsten Afrikas.
Kannte der Hund den Koch? (S. 28)
Trotz der englischen und französischen Kreuzer verlassen noch jährlich mit Sklaven befrachtete Schiffe den Strand von Angola und von Mozambique, um die Neger nach verschiedenen Punkten der Erde, leider muß man genauer sagen, der civilisirten Welt zu schaffen.
Der Hund schwamm mühsam auf das Boot zu. (S. 29.)
Dem Kapitän Hull war das recht wohl bekannt.
Obwohl diese Gegenden des Oceans weit seltener von Menschenschacherern besucht werden, legte er sich doch die Frage vor, ob die Schwarzen, welche zu retten ihm soeben vergönnt gewesen, nicht zu einer »Ladung Sklaven« gehört hätten, die der »Waldeck« nach irgend einer Ansiedelung am Stillen Oceane überzuführen im Begriff war. Selbst in diesem Falle erlangten die Schwarzen jedoch allein schon dadurch ihre Freiheit, daß sie den Fuß auf sein Schiff gesetzt hatten, und es drängte ihn wirklich, jenen diese Mittheilung zu machen.
Inzwischen ließ man den armen Schiffbrüchigen vom »Waldeck« die sorgfältigste Pflege zu Theil werden. Mrs. Weldon flößte ihnen, unterstützt von Nan und Dick Sand, ein bischen erquickendes, frisches Wasser ein, das denselben gewiß schon manche Tage fehlte, und in Verbindung mit einer Kleinigkeit Nahrung genügte dieses, sie in’s Leben zurückzurufen.
Der älteste der Neger – er mochte gegen sechzig Jahre zählen – war bald im Stande zu sprechen und antwortete in englischer Sprache auf die an ihn gerichteten Fragen.
»Euer Schiff ist in Collision mit einem anderen gewesen? fragte zuerst Kapitän Hull.
– Ja, erwiderte der alte Neger. Vor zehn Tagen erlitt unser Segler in tief dunkler Nacht einen Zusammenstoß. Wir schliefen…
– Aber die Leute vom »Waldeck«? Was ward aus ihnen?
– Sie waren nicht mehr da, Herr, als wir auf das Deck des Schiffes kamen.
– Die Besatzung hat sich also wohl an Bord des Fahrzeugs retten können, das an den »Waldeck« stieß? fragte Kapitän Hull weiter.
– Vielleicht, wir möchten das wenigstens hoffen.
– Und nach dem Zusammenstoß kehrte das andere Schiff nicht zurück, Euch aufzunehmen?
– Nein.
– Ist es etwa selbst gesunken?
– Gesunken ist es nicht, entgegnete der alte Neger, denn wir sahen es noch durch die Nacht dahinsegeln.«
Diese von allen Ueberlebenden des »Waldeck« bestätigte Thatsache könnte fast unglaublich erscheinen. Doch ist es leider nur zu wahr, daß manche Kapitäne nach einer durch ihre Unvorsichtigkeit herbeigeführten Collision entflohen sind, ohne sich um die Unglücklichen zu kümmern, welche sie dem Verderben preisgaben, ohne einen Versuch zu deren Rettung zu unternehmen!