Mögen es die Kutscher so machen, die Sorge für Jemand, den sie auf offener Straße beschädigten, Anderen zu überlassen, obwohl auch schon das verdammenswerth genug ist. Wenigstens sind ihre Opfer doch einer meist augenblicklichen Hilfe sicher. Daß aber Menschen andere Menschen auf offenem Meere ebenso herzlos verlassen, das ist nicht zu glauben, das ist eine Schande!
Kapitän Hull kannte indessen mehrfache Beispiele solcher grausamen Unmenschlichkeit und mußte Mrs. Weldon belehren, daß solche Vorkommnisse, so entsetzlich sie auch seien, leider doch nicht allzu selten wären.
Dann fuhr er fort:
»Woher kam der »Waldeck«?
– Von Melbourne.
– Ihr seid also keine Sklaven?…
– O nein, Herr, erwiderte schnell der alte Neger, indem er sich seiner ganzen Größe nach aufrichtete. Wir sind Einwohner von Pennsylvanien und freie Bürger Amerikas!
– Glaubt nicht, Ihr guten Leute, beruhigte ihn Kapitän Hull, daß Eure Freiheit gefährdet sein könne, wenn Ihr an Bord der amerikanischen Brigg »Pilgrim« tretet!«
Die fünf Neger aus dem »Waldeck« gehörten in der That nach Pennsylvanien. Der älteste von ihnen, der in Afrika im Alter von sechs Jahren verkauft und nach den Vereinigten Staaten geschafft worden war, hatte schon seit vielen Jahren, seit der Emancipationsacte, seine Freiheit erlangt. Die Anderen, alle noch weit jüngere Genossen desselben, waren als Söhne von befreiten Sklaven schon von Kindheit an frei geworden oder frei geboren und kein Weißer hatte jemals irgend ein Anrecht auf sie gehabt. Sie sprachen nicht einmal jenes »Neger-Idiom«, welches keinen Artikel und das Zeitwort nur im Infinitiv anwendet – ein Dialect, welcher mehr und mehr, vorzüglich seit dem letzten Bürgerkriege, verschwindet. Die Schwarzen hatten also die Vereinigten Staaten freiwillig verlassen und kehrten freiwillig dahin zurück.
Wie sie dem Kapitän Hull ferner mittheilten, waren sie bei einem Engländer, der in der Nähe von Melbourne, im südlichen Australien, eine große Besitzung bewirthschaftete, als Arbeiter engagirt gewesen. Durch dreijährige Dienste erwarben sie sich dort einen hübschen Nothpfennig und wollten jetzt, nach Ablauf ihres Engagements, nach Amerika zurückkehren.
Sie hatten sich zu dem Zwecke auf dem »Waldeck« eingeschifft und ihre Ueberfahrt so gut wie jeder andere Passagier bezahlt. Am 5. December verließen sie Melbourne und siebzehn Tage später wurde der »Waldeck« in stockfinsterer Nacht von einem großen Steamer umgefahren.
Die Neger lagen damals im Schlafe. Wenige Secunden nach dieser fürchterlichen Collision stürzten sie schon auf das Deck.
Die Masten waren abgebrochen und der »Waldeck« legte sich mehr und mehr auf die Seite; doch er sollte nicht versinken, denn das Wasser drang nur in mäßiger Menge in dessen Raum ein.
Kapitän und Mannschaft des »Waldeck« waren Alle verschwunden, mochten sie nun in’s Meer gestürzt sein oder sich an der Takelage des anstoßenden Schiffes angehalten haben, welches nach der Collision entfloh, um nie wiederzukehren.
So blieben die fünf Schwarzen auf einem halb umgeschlagenen Schiff, eintausendzweihundert Meilen von jedem Land entfernt, zurück.
Der älteste dieser Neger nannte sich Tom. Bei seinem Alter war sowohl sein energischer Charakter, als auch seine Erfahrung während eines langen Lebens voller Arbeit auf die Probe gestellt worden, was ihn zum natürlichen Bormann der mit ihm zugleich engagirten Leute machte.
Die anderen Schwarzen, welche Alle nur fünfundzwanzig bis dreißig Jahre zählten, hießen Bat (abgekürzt von Bartholomäus), der Sohn des alten Tom, Austin, Acteon und Herkules, erfreuten sich eines kräftigen Körperbaues und guter Constitution und hätten auf den Märkten des centralen Afrikas gewiß einen hohen Preis erzielt. Obwohl sie entsetzlich zu leiden gehabt hatten, erkannte man sie doch mit Leichtigkeit als Angehörige jener lebenskräftigen Race, denen eine liberale Erziehung in den Schulen von Nord-Amerika schon ihren sichtbaren Stempel aufgedrückt hatte.
Tom und seine Begleiter hatten sich also auf dem »Waldeck« nach dem Zusammenstoß allein befunden, ohne die Möglichkeit, den schwerfälligen Rumpf wieder aufzurichten oder diesen verlassen zu können, da die beiden Rettungsboote zertrümmert und über Bord gespült waren. Sie mußten also die zufällige Begegnung eines anderen Schiffes abwarten, obwohl das Wrack durch die Trift, der es folgte, immer weiter verschlagen wurde. Dieser Umstand erklärte es, daß man ihm außerhalb seines Kurses begegnet war, denn auf der Fahrt von Melbourne hätte der »Waldeck« eigentlich unter weit höheren Breiten treiben müssen.
Während der zehn Tage zwischen der Collision und dem Erscheinen des »Pilgrim« in Sicht des verunglückten Schiffes hatten sich die fünf Schwarzen von einigen Vorräthen ernährt, die sie in der Speisekammer des Vorderdecks fanden. Da sie jedoch nicht zur Kambüse gelangen konnten, welche das Wasser vollkommen erfüllte, so fehlte ihnen jedes Mittel, ihren Durst zu stillen; so daß sie fürchterlich litten, da die Wassertonnen an Deck zerschlagen und weggerissen waren. Seit dem vorigen Tage hatten Tom und seine Begleiter vor brennendem Durst das Bewußtsein verloren, und es war wirklich die höchste Zeit, daß der »Pilgrim« zu ihrer Erlösung kam.
So lautete mit kurzen Worten Tom’s Bericht an den Kapitän Hull. An der Wahrheitsliebe des alten Schwarzen durfte man wohl nicht zweifeln. Seine Genossen bestätigten übrigens Alles, was er gesagt, und die Umstände selbst sprachen ja schon genügend für die armen Leute.
Ein anderes auf dem Wrack befindliches lebendes Wesen hätte wohl mit derselben Aufrichtigkeit gesprochen, wenn ihm das Wort verliehen gewesen wäre.
Es war das der Hund, den der Anblick Negoro’s auf so auffallende Weise erregt hatte. Hier lag eine wirklich unerklärliche Antipathie eines Thieres vor.
Dingo – so hieß der Hund – gehörte jener großen Race an, welche Neu-Holland eigenthümlich ist. Dennoch war er nicht in Australien in Besitz des Kapitäns vom »Waldeck« gekommen. Letzterer fand Dingo vor etwa zwei Jahren, vor Hunger dem Tode nahe, an der Westküste Afrikas, in der Nähe der Mündungen des Congo. Der Kapitän des »Waldeck« hatte das schöne Thier aufgenommen, welches sich nicht besonders anschloß und immer vielleicht einen früheren Herrn zu betrauern schien, von dem man es gewaltsam getrennt haben mochte, und den es unmöglich in dieser wüsten Gegend wieder finden konnte. – S V – diese beiden auf dem Halsbande eingravirten Buchstaben waren Alles, was auf die Vergangenheit des Thieres hinwies, die man wohl vergeblich zu entschleiern versucht hätte.
Dingo, ein kräftiges herrliches Thier, war größer als die Pyrenäenhunde, aber ein prächtiges Exemplar jener neuholländischen Race. Wenn er sich mit zurückgelegtem Kopfe aufrichtete, erreichte er die Höhe eines Menschen. Seine Gewandtheit und Kraft ließen es glauben, daß er Jaguare und Panther wohl ohne Zögern angegriffen hätte und auch selbst vor einem Bären nicht zurückgeschreckt wäre. Mit dichtem Felle versehen, den Schweif wohl ausgebildet mit einer Quaste, ähnlich der des Löwen, und im Allgemeinen von dunkelgelber Farbe, war Dingo nur an der Schnauze durch einige weiße Flecken gezeichnet. In der Wuth konnte das Thier fürchterlich werden, und es erscheint erklärlich, daß Negoro von dem ihm zu Theil gewordenen Empfange dieses respectablen Vertreters des Hundegeschlechts nicht besonders entzückt war.
Wenn sich Dingo auch nicht so sehr den Menschen anschloß, so konnte man ihn doch nicht bösartig nennen. Er schien vielmehr nur traurig zu sein. Der alte Tom hatte schon an Bord des »Waldeck« die Bemerkung gemacht, daß der Hund vorzüglich Schwarze nicht gern leiden mochte. Er suchte ihnen zwar nichts Böses zuzufügen, aber er floh sie, wo er konnte. Vielleicht hatte er an der afrikanischen Küste, an welcher er umherirrte, von den dortigen Eingebornen eine schlechte Behandlung erlitten. Trotzdem daß Tom und dessen Genossen ganz brave Leute waren, hatte er sich ihnen doch so gut wie nie genähert. Auch während der letzten zwölf auf dem »Waldeck« verbrachten Tage hielt er sich stets abseits, nährte sich, Keiner wußte wie, litt jedoch, ebenso wie die Anderen, schrecklich an Durst.