– Du Elender! rief der Portugiese wild. Du Erbärmlicher! Dingo ist längst durch eine Kugel von mir crepirt! Er ist todt, so wie Mistreß Weldon und ihr Sohn, todt wie alle Ueberlebenden des »Pilgrim«!
– So wie auch Du bald Dein Schurkenleben beschließen wirst!« vervollständigte Dick Sand, dessen ruhiger Blick den Portugiesen zittern machte.
Negoro war außer sich und stand auf dem Punkte, von Worten zu Thätlichkeiten überzugehen und seinen hilflosen Gegner mit den Händen zu erwürgen. Schon hatte er sich auf ihn gestürzt und schüttelte ihn heftig, als ein plötzlicher Gedanke seine Arme lähmte. Er sagte sich, daß er sein Opfer tödten, daß damit Alles vorbei sein, und er jenem die vierundzwanzig Stunden Todesangst ersparen würde, die er noch leiden sollte. Er stand also wieder auf, richtete einige Worte an den Havildar, der der ganzen Scene theilnahmslos zugesehen hatte, indem er ihm anempfahl, den Gefangenen auf’s Strengste zu bewachen, und verließ dann die Baracke.
Statt ihn niedergeschlagener zu machen, gab dieser Auftritt Dick Sand im Gegentheil seine ganze moralische Kraft wieder. Auch seine physische Energie erhielt dadurch eine glückliche Anregung und gewann wieder die Oberhand. Hatte Negoro, als er sich auf ihn warf, vielleicht die Fesseln etwas gelockert, die ihm bisher jede Bewegung verwehrten? So schien es; denn Dick Sand überzeugte sich, daß seine Glieder mehr Spielraum hatten, als vor dem Erscheinen seines Peinigers. Mit dem Gefühle der Erleichterung kam dem jungen Manne auch der Gedanke, daß es ihm jetzt vielleicht nicht allzu schwer fallen könnte, seine Arme gänzlich frei zu machen. Da er in einem sicher verwahrten Gefängniß noch überdem streng bewacht war, erreichte er damit zwar nicht mehr, als daß er sich wenigstens von einer Marter befreite, aber in mancher Lebenslage gewinnt auch die geringste Erleichterung einen unschätzbaren Werth.
Gewiß hegte Dick Sand kaum einen Schimmer von Hoffnung. Menschliche Hilfe konnte ihm ja nur von außen kommen, aber wie sollte er auf solche rechnen? Er hatte sich also ergeben in sein Schicksal. Im Grunde war ihm das Leben jetzt werthlos. Er gedachte nur Derer, die ihm im Tode vorausgegangen, und ihn erfüllte die Sehnsucht, diese in einer besseren Welt wiederzusehen. Negoro behauptete ja ebenso wie Harris, daß Mrs. Weldon und der kleine Jack umgekommen seien. Dazu war es nur gar zu wahrscheinlich, daß auch Herkules den ihn rings bedrohenden Gefahren erlegen sei und ein schreckliches Ende gefunden habe. Tom und seine Gefährten waren jetzt weit, weit entfernt und, wie Dick Sand annehmen mußte, ihm für immer verloren. Auf etwas Anderes zu hoffen, als auf das Ende seiner Leiden durch einen Tod, der ja nicht furchtbarer sein konnte als ein solches Leben, wäre eine offenbare Thorheit gewesen. Er bereitete sich also vor, zu sterben, empfahl sich der Gnade des Höchsten und bat nur um den Muth, bis an’s Ende ohne Schwachheit auszuharren. Nicht vergebens erhebt man aber seine Seele zu Dem, der ja Alles vermag, und als Dick Sand sein schweres Opfer dargebracht, fand er im Grunde seines Herzens doch noch ein Fünkchen Hoffnung, ein Fünkchen, das ein Hauch von oben, trotz aller Unwahrscheinlichkeit eines erhofften Ausganges, doch noch zur leuchtenden Flamme anfachen konnte.
Die Stunden schlichen dahin. Die Nacht kam heran. Nach und nach erstarben die letzten Schimmer des Tages, welche sonst durch das Strohdach der Baracke drangen. Das Lärmen von der Tchitoka, wo es heute vergleichsweise sehr still zuging gegenüber dem Getöse und den wilden Auftritten des Vortages, verstummte allmälig. Im Innern des engen Gefängnisses herrschte tiefe Dunkelheit Bald pflegte in der Stadt Kazonnde Alles der Ruhe.
Die Nacht mochte schon halb verflossen sein. Der Havildar lag in bleiernem Schlafe, den er einer Flasche Branntwein verdankte, deren Hals seine Hand noch immer umschlossen hielt. Der Wilde hatte sie bis zur Neige geleert. Dick Sand kam auf den Gedanken, sich der Waffen seines Wächters zu bemächtigen, die ihm ja im Falle einer Flucht von großem Werthe sein konnten; in demselben Augenblicke vernahm er ein leises Scharren am unteren Theile der Barackenthür. Mit Hilfe der Arme gelang es ihm, bis zur Schwelle hinzukriechen, ohne den Havildar zu erwecken.
Dick Sand täuschte sich nicht. Das Scharren währte fort und ward immer deutlicher. Es schien, als werde von außen der Erdboden unter der Thür weggekratzt. War das ein Thier? War es ein Mensch?
»Herkules! Wenn das Herkules wäre?« sagte sich der junge Leichtmatrose.
Er heftete die Augen auf seinen Wächter; dieser lag in seinem Todtenschlafe nach wie vor unbeweglich da. Dick Sand näherte seine Lippen möglichst der Thürschwelle und glaubte es wagen zu dürfen, leise Herkules’ Namen zu flüstern. Ein unbestimmter Laut, ähnlich einem unterdrückten, kläglichen Bellen, antwortete ihm.
»Herkules ist es nicht, sagte Dick Sand für sich, aber Dingo ist es! Er hat meine Spur bis nach dieser Baracke gewittert. Bringt er mir wohl ein Wort von Herkules? Wenn Dingo aber nicht todt ist, so hat Negoro also gelogen und vielleicht…«
Da drängte sich eine Tatze unter der Thür hindurch. Dick Sand erfaßte sie und erkannte nun Dingo mit Sicherheit daran. Wenn dieser aber ein Billet trug, dann konnte es nur an dem Halse des Hundes befestigt sein. Was nun? War es möglich, das Loch so weit zu vergrößern, daß Dingo den Kopf durchzwängen konnte? Jedenfalls mußte dieser Versuch gemacht werden.
Kaum hatte Dick Sand jedoch begonnen, die Erde mit den Fingernägeln wegzuscharren, als auf dem Platze draußen ein lebhaftes Gebell, aber nicht von Dingo herrührend, anhob. Die einheimischen Hunde hatten das treue Thier aufgespürt, und ihm blieb gewiß nichts Anderes übrig, als die Flucht zu ergreifen. Einige Flintenschüsse krachten. Der Havildar ward halb munter. Dick Sand konnte nicht mehr daran denken, auszubrechen, nachdem einmal Lärm geschlagen war, und mußte auf’s Neue in seinen Winkel kriechen wo er den Tag anbrechen sah, der für ihn der letzte sein sollte.
Während des ganzen Tages ward die Ausschachtung des Grabes emsig fortgesetzt. Unter Leitung des ersten Ministers der Königin Moina nahmen sehr viele Eingeborne daran Theil. Bei Strafe der Verstümmelung sollte Alles zur festgesetzten Stunde fertig sein, denn die neue Herrscherin befleißigte sich, nach allen Richtungen hin die Gewohnheiten des entseelten Königs beizubehalten.
In dem nach Abdämmung des Wassers trocken gelegten Flußbette wurde das Grab in einer Tiefe von etwas über drei Meter, bei gleicher Breite und etwa sechzehn Meter Länge ausgehoben.
Gegen Abend tapezierte man sozusagen den Boden und die Seitenwände der Grube mit lebenden, unter Moini Loungga’s Sklavinnen auserwählten Frauen. Gewöhnlich werden diese unglücklichen Geschöpfe bei ähnlichen Gelegenheiten einfach lebendig begraben. Unter Berücksichtigung des eigenartigen und wunderbaren Todes Moini Loungga’s war aber dahin entschieden worden, sie in nächster Nähe der Leiche ihres Herrn zu ertränken.1
Die Sitte erheischt es, den verstorbenen König, bevor er in’s Grab gelegt wird, mit seinen prächtigsten Kleidern zu schmücken. Diesmal mußte freilich, da Sr. Majestät Ueberreste nur aus einigen calcinirten Knochenstücken bestanden, in anderer Weise verfahren werden. Man fertigte eine Art Gliedermann aus Weidenzweigen an, der Moini Loungga hinlänglich, höchstens etwas zu vortheilhaft vertrat, und füllte in denselben die nach der Selbstverbrennung gesammelten Ueberbleibsel. Diese Puppe ward mit der königlichen Kleidung angethan – welche Hinterlassenschaft, wie wir wissen, keine besonderen Werthgegenstände enthielt – und man vergaß dabei auch nicht, ihr Vetter Benedict’s verhängnißvolle Brille als Zierrath aufzusetzen. Die ganze Maskerade hatte wirklich den Anstrich einer entsetzlichen Komik.
Die letzte Ceremonie sollte bei Fackelschein und mit möglichstem Glanze vor sich gehen. Die ganze Bevölkerung von Kazonnde, Einheimische wie Fremde, sollte ihr beiwohnen.
Als der Abend herankam, bewegte sich ein langer Zug von der Tchitoka aus bis nach dem Begräbnißplatze. Geschrei, wilde Tänze, Beschwörungen der Magiker, der Lärm verschiedener Instrumente, das Knallen alter Musketen aus dem Arsenal – nichts fehlte dabei.