Braucht es der ausdrücklichen Versicherung, daß Mrs. Weldon seitens ihres großen Kindes, des Vetters Benedict, keinerlei hilfreiche Unterstützung fand? – Das versteht sich ja wohl von selbst.
Als der würdige Gelehrte hörte, daß er sich nicht auf amerikanischem Boden befand, wie er doch bisher annahm, machte er sich nicht die mindeste Sorge darüber, zu erfahren, wie das wohl zugegangen sein mochte. Nein! Seine erste Empfindung war die der Enttäuschung. Die Insecten, welche er zuerst von allen in Amerika entdeckt zu haben glaubte, diese Tetses und andere, verwandelten sich nun ja zu ganz gewöhnlichen afrikanischen Hexapoden, welche eine Menge Naturforscher schon lange vor ihm in ihrer Heimat auffanden.
Wie traurig mußte er dem Ruhme, den diese Entdeckungen an seinen Namen heften sollten, Lebewohl sagen! Was war denn auch Erstaunliches daran, daß Vetter Benedict afrikanische Insecten gesammelt hatte, da er sich ja in Afrika befand?
Als der erste Schmerz der Enttäuschung aber vorüber war, sagte sich Vetter Benedict, daß »das Land der Pharaonen« – so pflegte er es noch immer zu nennen – ganz unvergleichliche Reichthümer an entomologischen Schätzen besaß, daß er, wenn er denn einmal nicht im »Lande der Inkas« sein sollte, bei diesem Tausche nicht viel verlieren könne.
»O, wiederholte er, und wiederholte es auch gegenüber Mrs. Weldon, welche ja gar nichts davon hören wollte, hier ist ja das Vaterland der Manticoren, jener Koleopteren mit langen, behaarten Füßen, mit verbundenen und doch verschiedenfarbigen Flügeldecken und verhältnißmäßig ungeheuren Kiefern, deren hervorragendste Art die knotige Manticore ist. Hier ist die Heimat der goldpunktirten Calosonen, der Goliaths von Guinea und Gabon, deren Füße mit Stacheln bewehrt sind; der gefleckten Anthidien, welche ihre Eier in das leere Gehäuse der Schnecken legen; der geheiligten Ateuchus, denen die Ober-Egypter eine wahrhaft göttliche Verehrung zollen! Hier wurden jene Sphinxe mit dem Todtenkopfe erzeugt, die jetzt durch ganz Europa verbreitet sind, und die Idias Bigoti, deren Stich die Bewohner der Küste von Senegal ganz besonders fürchten! O, hier ist noch manch prächtiger Fund zu thun und ich werde das nicht vernachlässigen, wenn diese wackeren Leute es nur erlauben!«
Man weiß, wer diese »wackeren Leute« waren, über welche Klage zu führen, Vetter Benedict gar nicht in den Sinn kam. Im Gegentheil genoß der Entomolog, wie gesagt, unter Harris’ und Negoro’s Leitung einer halben Freiheit, während Dick Sand ihn derselben während der Reise von der Küste zur Coanza beraubt hatte. Der naive Gelehrte schien von dieser Zuvorkommenheit ihm gegenüber ganz entzückt.
Vetter Benedict wäre mit einem Worte der glücklichste Entomologe gewesen, hätte er nicht einen Verlust erlitten, den er gar zu schmerzlich empfand. Noch immer besaß er zwar seine Blechbüchse, aber die Brille thronte nicht mehr auf seiner Nase und die Loupe hing nicht ferner an seinem Halse! Ein Naturforscher ohne Brille und Loupe ist aber so gut wie gar keiner. Leider sollte Vetter Benedict seine beiden optischen Hilfsmittel niemals wieder sehen, denn sie waren mit dem königlichen Gliedermann begraben worden.
Wenn er nun ein Insect fand, war er gezwungen, es sich fast in die Augen selbst zu halten, um dessen elementarste Einzelheiten zu erkennen O, das war ein schwerer Kummer für Vetter Benedict, und er hätte eine Lorgnette oder Brille gewiß gern theuer bezahlt. Diese Artikel pflegt man aber bei dem Lakoni von Kazonnde nicht feilzubieten. Jedenfalls durfte Vetter Benedict in Alvez’ Etablissement ungehindert hin und hergehen. Man wußte ja, daß er unfähig war, einen Fluchtversuch zu machen. Uebrigens trennte eine hohe Palissade die Factorei von den übrigen Stadtvierteln, und diese war schon nicht so leicht zu übersteigen.
Blieb er nun auch stets streng eingeschlossen, so maß dieses Gefängniß dafür doch eine ganze Meile im Umfange. Verschiedene Bäume, Buschwerk aus Afrikas eigenthümlichen Arten, große Gräser, der Wasserlauf eines Baches, die Strohdächer der Baracken und Hütten – das war mehr als hinreichend, hier die seltensten Insecten zusammenzulocken und Vetter Benedict, wenn auch nicht reich, so doch glücklich zu machen. Er entdeckte auch wirklich einige Hexapoden, wenn es ihm auch fast das Augenlicht kostete, sie ohne Loupe zu untersuchen; doch nahm seine kostbare Sammlung ja dabei an Umfang zu und er legte damit den Grund zu einem umfassenden Werke über afrikanische Entomologie. Wie wünschte er, daß sein glücklicher Stern ihm ein neues Insect entdecken ließe, um an dasselbe seinen Namen zu knüpfen, dann wäre ja sein Herzenswunsch erfüllt gewesen!
Erwies sich Alvez’ Etablissement schon hinreichend groß für Vetter Benedict’s wissenschaftliche Ausflüge, so schien es dem kleinen Jack geradezu unermeßlich. Nur wenig suchte dieses Kind indeß die gewöhnlichen Vergnügungen seines Alters. Selten wich es von seiner Mutter, welche es überhaupt nicht gern allein ließ und immer irgend ein Unglück fürchtete. Der kleine Jack sprach häufig von seinem Vater, den er so lange nicht gesehen hatte, und verlangte zu ihm zurückzukehren. Er erkundigte sich nach Allen, nach der alten Nan, nach seinem Freunde Herkules, nach Bat, Austin, Acteon und nach Dingo, der ihn ja ebenfalls verlassen zu haben schien. Er wollte seinen Kameraden Dick Sand wiedersehen. Seine Einbildungskraft lebte nur in der schönen Vergangenheit Mrs. Weldon konnte auf seine Fragen nicht anders antworten, als dadurch, daß sie ihn an die Brust drückte und seine Stirn mit Küssen bedeckte. Nicht in seiner Gegenwart zu weinen, das war das einzige, was sie thun konnte!
Inzwischen nöthigte sich Mrs. Weldon die Beobachtung auf, daß die verhältnißmäßig rücksichtsvolle Behandlung, die ihr auf der Reise von der Coanza bis hierher zu Theil geworden war, auch in Alvez’ Etablissement keine Aenderung erleiden solle. In der Factorei befanden sich nur die speciellen, für die Bedienung des Händlers bestimmten Sklavinnen. Alle Uebrigen waren in den Baracken der Tchitoka untergebracht und an die Mäkler aus dem Innern verkauft worden. Jetzt strotzten die Magazine von Stoffen und Elfenbein, die Stoffe mit der Bestimmung, in den Provinzen Central-Afrikas ausgetauscht, das Elfenbein, um nach den Handelsplätzen des Continents exportirt zu werden.
In der Factorei wohnten also nur wenig Menschen. Mrs. Weldon nahm mit dem kleinen Jack eine besondere Hütte ein; Vetter Benedict eine andere. Mit den Dienern des Händlers kamen sie nicht viel zusammen und speisten gemeinschaftlich. Die aus Ziegen-oder Hammelfleisch, Gemüsen, Manioc, Sorgho und anderen Landesfrüchten bestehende Nahrung war für sie völlig hinreichend. Halima, eine junge Sklavin, welche Mrs. Weldon besonders beigegeben war, erwies ihr sogar, so gut sie das vermochte, eine zwar rohe, aber jedenfalls aufrichtige Theilnahme.
Jose-Antonio Alvez, der das Hauptgebäude bewohnte, bekam Mrs. Weldon kaum zu Gesicht, und sie sah auch den außerhalb wohnenden Negoro nicht, dessen Fernbleiben ihr gänzlich unerklärbar blieb. Diese Zurückhaltung erregte ihre Verwunderung und beunruhigte sie nur desto mehr.
»Was will er? Was zögert er? fragte sie sich. Warum hat er uns nach Kazonnde geschleppt?«
So verliefen die acht Tage vor Eintreffen der Karawane Ibn Hamis, die zwei Tage vor der Leichenfeier des Königs und auch noch sechs Tage nach dieser.
Trotz ihrer eigenen Angst konnte Mrs. Weldon doch niemals vergessen, daß ihr Gatte sicher in der größten Seelenangst schwebe, weder Weib noch Kind nach San Francisco zurückkehren zu sehen. Mr. Weldon konnte nicht wissen, daß seine Frau den verderblichen Gedanken gehabt habe, sich auf dem »Pilgrim« einzuschiffen, und mußte glauben, daß sie auf einem der Steamer der transpacifischen Compagnie Passage genommen habe. Diese Dampfer langten nun zwar regelmäßig an, doch weder Mrs. Weldon, noch Jack oder Vetter Benedict mit ihnen. Uebrigens hätte auch der »Pilgrim« jetzt schon längst nach seinem Heimathafen zurückgekehrt sein sollen und James W. Weldon mußte ihn wohl, bei dem Fehlen aller weiteren Nachrichten von dem Schiffe unter die Zahl der verschollenen Fahrzeuge rechnen. Welch’ furchtbarer Schlag würde es aber erst für ihn gewesen sein, als er von seinem Correspondenten in Auckland Avis von der Abfahrt des »Pilgrim« und der Einschiffung der Mrs. Weldon auf demselben erhielt! Was war da wohl in ihm vorgegangen? Selbst wenn er noch nicht glaubte, daß sein Sohn und sie auf dem Meere umgekommen seien, wohin sollte er sich mit seinen Nachforschungen wenden? Offenbar nach den Inseln des Stillen Oceans, vielleicht nach der Küste Amerikas. Aber nie, niemals konnte ihm nur einfallen, daß sie an das Gestade des schrecklichen Afrika geworfen worden sein könnten.