Nach Verlauf einer Stunde rief er seinen Diener Souzi, verlangte einige Arzneimittel und murmelte dann mit schwacher Stimme:
»Es ist gut, Ihr könnt nun gehen.«
Weshalb schlug er diese unerwartete Richtung ein? (S. 395.)
Gegen vier Uhr Morgens traten Souzi und fünf Mann von der Begleitung in die Hütte des Doctors.
Vor seinem Lager knieend und den Kopf in die Hände gestützt, schien Livingstone zu beten.
Sonzi berührte mit dem Finger leicht seine Wange: sie war kalt.
David Livingstone war nicht mehr!
Neun Monate später langte seine Leiche, von den treuesten Dienern unter Verachtung jeder Anstrengung getragen, in Zanzibar an und wurde am 12. April 1874 in der Westminster-Abtei beigesetzt, mitten unter jenen Männern, welche England durch diese Grabstätte gleich seinen Königen ehrt.
Fünfzehntes Capitel.
Wohin eine Manticore den Menschen bringen kann.
Klammert sich der Unglückliche nicht an jede schwache Planke, die ihm Rettung verheißt? Suchen die ängstlichen Blicke des Verurtheilten nicht nach dem schwächsten Schimmer von Hoffnung, der ihm noch leuchtet?
So erging es auch Mrs. Weldon, und deshalb wird ihre Entmuthigung um so erklärlicher erscheinen, als sie aus Alvez’ eigenem Munde vernahm, daß Doctor Livingstone in einem kleinen Dorfe am Bangueolo gestorben sei. Sie schien sich nun verlassener als je; es war, als ob ein geistiges Band, das sie mit dem kühnen Reisenden und durch diesen mit der civilisirten Welt verknüpfte, plötzlich zerschnitten sei. Die rettende Planke entschlüpfte ihren Händen, der Schimmer von Hoffnung erstarb vor ihren Augen. Tom und seine Gefährten hatten Kazonnde nach dem Gebiete der großen Seen zu verlassen. Von Herkules keine Nachrichten. Mrs. Weldon blieb Niemand mehr, auf den sie zählen konnte. Wohl oder übel mußte sie auf Negoro’s Vorschlag zurückkommen, indem sie nur versuchte, sich dessen Bedingungen günstiger zu gestalten und den endlichen Erfolg sicherzustellen.
Am 14. Juni, pünktlich an dem von ihm angesetzten Tage, stellte sich Negoro in Mrs. Weldon’s Hütte ein.
Den Portugiesen leiteten, wie er sagte, immer nur praktische Rücksichten. Von der Höhe des bedungenen Lösegeldes brauchte er sich nichts abhandeln zu lassen, da seine Gefangene diesen Punkt gar nicht berührte. Mrs. Weldon erwies sich jedoch der ganzen Frage gegenüber nicht weniger praktisch.
»Wollen Sie einmal ein Geschäft machen, sagte sie, so vereiteln Sie es nicht durch unannehmbare Bedingungen. Unsere Freigebung kann im Austausch gegen die von Ihnen verlangte Summe erfolgen, ohne daß mein Mann sich in ein Land begiebt, wo Sie ja selbst wissen, was man auch mit einem Weißen beginnen kann!«
Nach einigem Zögern fügte sich Negoro und Mrs. Weldon erhielt schließlich die Zusicherung, daß Mr. James W. Weldon sich nicht erst bis Kazonnde zu wagen brauchte. Er sollte nur in Mossamedes, einem kleinen, im Süden der Küste von Angola gelegenen Hafen landen, den meist nur Sklavenhändler besuchten und der Negoro hinlänglich bekannt war. Dorthin wollte der Portugiese Mr. Weldon bringen, während Agenten von Alvez Mrs. Weldon, den kleinen Jack und Vetter Benedict zu bestimmter Zeit ebenfalls dahingeleiten sollten. Gegen Rückgabe der Gefangenen sollte die bedungene Summe an die Agenten ausgezahlt werden und Negoro, der Mr. Weldon gegenüber die Rolle des höchst ehrbaren Mannes gespielt hatte, unbemerkt verschwinden.
Mrs. Weldon erzielte hiermit ein sehr wichtiges Zugeständniß. Sie ersparte ihrem Gatten die Gefahren einer Reise nach Kazonnde, das Risico, nach Zahlung des Lösegeldes ebenfalls zurückbehalten zu werden, und außerdem die Mißlichkeiten der Rückreise. Legte sie die 600 Meilen zwischen Kazonnde und Mossamedes in derselben Weise zurück wie den Weg von der Coanza nach der genannten Stadt, so hatte sie ja nur eine mäßige Anstrengung zu befürchten, und in Alvez’ Interesse – der dem ganzen Handel keineswegs fern stand – lag es ja, die Gefangenen heil und gesund abzuliefern.
Nach Ordnung dieser Vorbedingung setzte Mrs. Weldon einen Brief in gewünschtem Sinne auf und überließ es Negoro’s Sorge, sich in die unpassende Rolle eines treu ergebenen, den Eingebornen glücklich entflohenen Dieners zu finden. Negoro nahm das Schreiben in Empfang, auf welches hin James Weldon gar nicht zögern konnte, ihm nach Mossamedes zu folgen, und brach am folgenden Tage unter der Escorte einiger zwanzig Neger nach Norden zu auf. Weshalb schlug er diese unerwartete Richtung ein? Hegte er, Negoro, die Absicht, sich auf einem der Fahrzeuge, welche die Mündungen des Congo besuchen, einzuschiffen, um dadurch die portugiesischen Stationen und die Strafanstalten zu umgehen, deren unfreiwilliger Insasse er ja selbst gewesen war? Vielleicht; mindestens gab er Alvez diesen Grund dafür an.
Nach seiner Abreise mußte Mrs. Weldon sich nun einzurichten suchen, um die Zeit ihres Aufenthaltes in Kazonnde so gut wie möglich hinzubringen. Selbst im günstigsten Falle konnte das drei bis vier Monate dauern denn so lange Zeit nahm die Hin-und Rückreise Negoro’s gewiß in Anspruch.
Mrs. Weldon hatte auf keinen Fall den Gedanken, die Factorei zu verlassen. Ihr Kind, Vetter Benedict und sie selbst befanden sich hier ja verhältnißmäßig in Sicherheit. Halima’s aufmerksame Sorgfalt machte ihr die Härten dieser Einsperrung minder fühlbar. Uebrigens hätte ihr der Sklavenhändler wahrscheinlich auch gar nicht gestattet, das Etablissement zu verlassen. Die große Prämie, welche ihm der Rückverkauf seiner Gefangenen versprach, lohnte wohl der Mühe, letztere streng zu bewachen. Es traf sich auch glücklich, daß Alvez keine Veranlassung hatte, Kazonnde zu verlassen, um die beiden anderen Factoreien in Bihe und Cassange zu besuchen. Bei der Leitung weiterer Razzias vertrat jetzt Coïmbra seine Stelle, und Niemand hatte Ursache, die Abwesenheit dieses Trunkenboldes zu bedauern.
Zum Ueberfluß empfahl Negoro vor seiner Abreise Mrs. Weldon noch dringend der Fürsorge Alvez’. Er legte besonderes Gewicht darauf, sie unausgesetzt zu überwachen. Man wußte ja gar nicht, was aus Herkules geworden war. Kam er in dieser todtbringenden Provinz Angola wirklich nicht um’s Leben, so konnte er ja vielleicht versuchen, sich der Gefangenen zu nähern und sie Alvez’ Händen zu entführen. Der Sklavenhändler überschaute vollständig die Situation, bei welcher für ihn eine nicht zu verachtende Summe Dollars auf dem Spiele stand Er übernahm die Verantwortlichkeit für Mrs. Weldon ebenso wie für seine eigene Casse.
Das einförmige Leben der Gefangenen nahm also seinen Fortgang, ganz wie in den ersten Tagen ihrer Hierherkunft. Was innerhalb der Einfriedigung der Factorei vorging, gab übrigens ein vollkommenes Spiegelbild von dem Leben der Eingebornen außer derselben. Alvez selbst huldigte keinerlei anderen Gewohnheiten als die Bevölkerung von Kazonnde. In dem Etablissement arbeiteten die Frauen ebenso, wie sie es zum Vergnügen ihrer Ehegatten oder Herren in der Stadt gethan hätten. Die Zubereitung des Reises durch Klopfen mit dem Stößer in großen hölzernen Mörsern bis zur vollendeten Schälung desselben; das Reinigen und Mahlen des Maises und alle nothwendigen Manipulationen, um ihn in Form kleinerer Körnchen zu gewinnen, welche zur Bereitung eines unter dem landesüblichen »Mtyelle« bekannten und beliebten Gerichtes dienen; die Einerntung des Sorgho, dessen eingetretene Reise eben zu jener Zeit mit besonderen Ceremonien verkündigt wurde; die Extraction eines wohlriechenden Oeles aus den Steinfrüchten des »Mpafu«, d.i. eine Art Oliven, deren Essenz ein bei den Eingebornen sehr beliebtes Parfum liefert; das Spinnen der Baumwolle, deren Fasern mittelst einer anderthalb Fuß langen und von den Arbeiterinnen in sehr rasche Umdrehung versetzten Spindel zu Fäden vereinigt werden; die Herstellung von Rinden-Stoffen mittelst Schlägeln; das Ausziehen der Manioc-Wurzeln und die Bearbeitung des Bodens zur Cultur verschiedener einheimischer Producte, wie Cassave, Mehl aus dem Manioc, Bohnen, deren ein drittel Meter lange, »Mosilanes« genannte Schoten auf Bäumen von 6 bis 7 Meter Höhe wachsen; Arachiden, aus denen Oel gewonnen wird; perennirende Erbsen, bekannt unter dem Namen »Tchilobes«, deren hellblaue Blüthen den etwas faden Geschmack des Sorgho einigermaßen verbessern; einheimische Kaffeebäume, Zuckerrohr, dessen Saft sich leicht in Syrup verwandelt, Zwiebeln, Goyaven, Sesam, Gurken, deren große Kerne man wie Kastanien zu rösten pflegt; ferner die Bereitung der gegohrenen Getränke, wie des »Malafu« aus Bananen, des »Pombe« und anderer Liqueure; die Sorge für die Hausthiere, z.B. für jene Kühe, die sich nur in Gegenwart ihres eigenen oder wenigstens eines ausgestopften Kalbes melken lassen; für jene Färsen von kleinem Wuchs und mit kurzen Hörnern, von denen manche einen deutlichen Höcker haben; für die Ziegen, die in den Landestheilen, wo ihr Fleisch als Nahrungsmittel beliebt ist, ein wichtiges Tauschobject, fast eine Münze, wie die Sklaven, bilden; endlich die Unterhaltung des Geflügels, der Schweine, Schafe, Stiere u.s.w. – diese lange Aufzählung beweist, welch’ harte Arbeiten dem schwächeren Geschlecht im Innern Central-Afrikas obliegen oder doch gewöhnlich aufgebürdet werden.