So dachte Vetter Benedict. Aber der Weg war weit von seinem etwas spitzen Schädel bis zum Ende der etwas langen Nase. Und wie viele andere Wege konnte das launische Insectwählen, wie nach der Gegend der Ohren oder des Hinterhauptes, wobei es der eifrige Gelehrte im ganzen Leben nicht zu Gesicht bekommen hätte, ganz abgesehen von der Möglichkeit, daß es jeden Augenblick wieder auffliegen, die Hütte verlassen und in den blendenden Sonnenstrahlen verschwinden konnte, wo es sonst mitten im Geschwirr und Gesumm seiner Brüder und Verwandten, das lockend von draußen ertönte, sein kurzes Leben vertändelte.
Vetter Benedict verhehlte sich das Alles nicht. Nie hatte er während seiner Entomologen-Laufbahn so erwartungsvolle Minuten durchlebt. Da krabbelte eine afrikanische Hexapode von unbekannter Art, Abart oder Unterabart auf seinem Haupte herum, und er konnte sie nur unter der einzigen Bedingung zu Gesicht bekommen, daß jene sich herbeiließ, auf einen Zoll Entfernung vor seinen Augen vorüberzulaufen.
Vetter Benedict’s heißer Wunsch sollte jedoch erfüllt werden. Nachdem das Insect auf dem ziemlich struppigen Haupthaar wie auf einem wild aufgeschossenen Gebüsch umhergewandelt war, kletterte es den Stirnabhang des Gelehrten hinab, der nun wirklich Hoffnung schöpfte, daß es sich auf den Gebirgskamm seiner Nase hinaus begeben werde. Einmal auf diesem Kamme, warum sollte es dann nicht auch bis zu dessen frei auslaufendem Ende marschiren?
»Ich an seiner Stelle, ich ginge bis dahin!« dachte der würdige Gelehrte.
Weit richtiger wäre freilich, daß an Stelle Benedict’s jeder Andere sich einen derben Schlag vor die Stirn gegeben hätte, um das stechende Insect zu zermalmen oder doch in die Flucht zu jagen. Sechs Füße so auf der eigenen Haut dahinspazieren zu fühlen – von der Furcht vor einem empfindlichen Stiche ganz zu schweigen – ohne auch nur die leiseste Bewegung zu machen, dazu gehört gewiß auch ein specieller Heldenmuth. Der Spartaner, der seine Brust von einem Fuchse verzehren ließ, der Römer, der seine Hand dicht über glühende Kohlen hielt, bedurften dabei keiner größeren Selbstbeherrschung als Vetter Benedict, der ohne Zweifel von jenen beiden Helden abstammte.
Nach vielfachen kleinen Umwegen kam das Insect am oberen Theile der Nase an. Einen Augenblick zauderte es, wodurch dem Vetter Benedict schon alles Blut nach dem Herzen getrieben wurde. Kehrte die Hexapode jetzt etwa nach oben zurück oder bewegte sie sich weiter nach abwärts?
Sie stieg bergab. Vetter Benedict fühlte die behaarten Füßchen schon auf seiner Nasenwurzel. Das Insect wich weder nach rechts noch nach links ab. Es hielt sich zwischen den beiden leise zitternden Nasenflügeln, auf dem leicht gebogenen Kamm dieser Gelehrten-Nase, welche zum Tragen einer Brille wie geschaffen schien. Es überschritt den kleinen, durch den fortwährenden Gebrauch genannten optischen Instrumentes eingedrückten Graben und machte wirklich auf der äußersten Spitze dieses Gesichts-Appendix’ Halt.
Das war der zweckmäßigste Platz, den die Hexapode nur erwählen konnte. In dieser Entfernung vermochten Vetter Benedict’s Blicke, indem sich seine Augenachsen convergent einstellten, das Insect wie die durch zwei Linsen zusammengefaßten Strahlen von beiden Seiten zu umfassen.
»Allmächtiger Gott! rief Vetter Benedict, außer Stande, seine freudige Erregung zu bemeistern, eine knotige Manticore!«
Das hätte er nun freilich gar nicht ausrufen, sondern nur denken sollen. Wäre das aber von einem enthusiastischen Entomologen nicht gar zu viel verlangt gewesen?
Auf seiner Nasenspitze eine knotige Manticore mit breiten Flügeldecken zu beherbergen, ein Insect aus der Familie der Cicindeleten, ein Cabinetsstück der Sammlungen, das den tropischen Gegenden InnerAfrikas eigenthümlich zu sein scheint, und dabei keinen Ausruf der Bewunderung von sich zu geben – das überstieg alle menschliche Kraft!
Leider hörte aber auch die Manticore jenen Ausruf, gefolgt von einem kräftigen Niesen, welches den ihr als Sitz dienenden Appendix gründlich erschütterte. Vetter Benedict wollte sie einfangen, streckte die Hand aus und schloß sie schnell wieder, ergriff aber weiter nichts als – die Spitze seiner eigenen Nase.
»Verdammt!« rief er.
Sofort gewann jedoch das kalte Blut wieder die Herrschaft über ihn.
Er wußte, daß eine knotige Manticore sich meist nur flatternd fortbewegt und eigentlich mehr läuft als fliegt. Er kniete also nieder und wirklich entdeckte er, eine Spanne weit vor seinen Augen, den schwarzen Punkt wieder, der in einem sonnenbeschienenen Streifen schnell dahinglitt.
Offenbar erschien es dem Gelehrten zweckmäßiger, das Thier bei seinen unbehinderten Bewegungen zu beobachten; nur durfte er es nicht aus dem Gesichte verlieren.
»Wenn ich die Manticore hasche, könnte ich sie zerdrücken! sagte sich Vetter Benedict. Nein! Ich werde ihr nachfolgen, ich werde sie bewundern! Ich kann mir ja Zeit nehmen!«
That Vetter Benedict Unrecht daran? Wer weiß; jedenfalls erniedrigte er sich zum Vierfüßler, berührte die Erde beinahe mit der Nase, gleich einem Hunde, der einer Spur nachgeht, und folgte der prächtigen Hexapode in einer Entfernung von wenigen Centimetern nach. Im nächsten Augenblick befand er sich außerhalb der Hütte, unter der sengenden Mittagssonne, und wenige Minuten später an der Palissade, welche Alvez’ Etablissement umschloß.
Wenn die Manticore hier die Umplankung nun mit einem Sprunge überflog und damit eine Scheidewand zwischen sich und ihrem tollen Bewunderer setzte? Nein, das war nicht ihrer Natur gemäß, und Vetter Benedict kannte diese aus dem Fundamente. Noch immer kroch er ihr wie eine Schlange auf der Erde nach, zu entfernt, um sie entomologisch genauer zu erkennen, doch nahe genug, um den schwarzen Punkt auf dem Boden hinhüpfen zu sehen.
Am Fuße der Palissade traf die Manticore auf die weite Mündung eines Maulwurfbaues, der sich nach innen zu öffnete. Ohne Zögern schlüpfte sie in den unterirdischen Gang, denn es liegt in ihrer Gewohnheit, solche dunkle Wege aufzusuchen. Vetter Benedict fürchtete schon, sie nun aus den Augen zu verlieren Zu seinem freudigen Erstaunen erwies sich jene Oeffnung aber über einen halben Meter weit und bildete der Maulwurfsbau einen hinreichend großen Gang, um seinen langen, hageren Körper hineinzwängen zu können. Seine Verfolgungswuth beraubte ihn gänzlich der Ueberlegung, und er bemerkte, als er sich »begrub«, gar nicht, daß er dabei unter der Palissade hinwegkroch. Wirklich stellte der Maulwurfsbau eine Verbindung von innen nach außen dar. Binnen einer halben Minute befand sich Vetter Benedict außerhalb der Factorei. Hierüber machte er sich jedoch nicht die geringste Sorge, sondern ging gänzlich auf in der Bewunderung des eleganten Insectes, welches ihn führte. Letzteres schien jedoch vom langen Marschiren ermüdet. Seine Flügeldecken hoben sich und die Flügel spannten sich auf. Vetter Benedict merkte die Gefahr und wollte die Manticore schon in seiner hohlen Hand vorläufig gefangen setzen, als sie, frrr!… schwirrend davonflog.
Welche Verzweiflung! Und doch, weit konnte die Manticore ja fliegend nicht gelangen. Vetter Benedict erhob sich, spähte umher und stürzte ihr mit ausgestreckten, geöffneten Händen nach…
Das Insect schwebte bald wieder über seinem Kopfe, er aber erkannte davon nichts als einen großen, dunklen Punkt ohne näher bestimmbare Form.
Sollte sich die Manticore nach Beschreibung einiger launischer Kreise um das struppige Haupt Vetter Benedict’s wieder auf die Erde setzen? Alle Voraussetzungen sprachen dafür.
Zum Unglück für den bedauernswerthen Gelehrten grenzte das am Nordende der Stadt gelegene Etablissement von Alvez an einen ausgedehnten Wald, der das Gebiet von Kazonnde im Umfange mehrerer Quadratmeilen bedeckte. Erreichte die Manticore erst die Bäume und fiel es ihr etwa ein, von Zweig zu Zweig zu flattern, dann schwand die Hoffnung gänzlich, sie noch in der berühmten Blechkapsel figuriren zu sehen, deren kostbares Kleinod sie gebildet hätte.