Inzwischen floß die Pirogue den Fluß mit einer Geschwindigkeit hinab, welche Dick Sand auf nicht weniger als zwei Meilen in der Stunde schätzte. Er rechnete also darauf, zwischen zwei Sonnenaufgängen eine Entfernung von fünfzig Meilen zurückzulegen. Gerade diese schnelle Strömung verlangte auch eine erhöhte Aufmerksamkeit, um etwaigen Hindernissen, wie Felsen, Baumstämmen oder Untiefen, rechtzeitig auszuweichen. Dazu lag auch die Befürchtung nahe, daß diese Strömung später in Stromschnellen, vielleicht gar in die Form von Wasserfällen übergehen könnte, was bei afrikanischen Flüssen ja sehr häufig der Fall ist.
Dick Sand, dem die Freude, Mrs. Weldon und ihr Kind wiederzusehen, die Kräfte schnell wiedergegeben hatte, nahm im Vordertheil der Pirogue Platz. Durch das lang herabhängende Gras und Laub beobachtete er den Fluß vor sich und bezeichnete Herkules, der den langen Bootsriemen führte, durch Worte oder durch Gesten, was er thun sollte, um das Fahrzeug auf dem richtigen Wege zu erhalten.
In Gedanken vertieft, lag Mrs. Weldon in der Mitte auf einem Lager von Blättern. Vetter Benedict saß schweigend, manchmal die Stirn runzelnd, wenn er Herkules sah, dem er wegen seines Dazwischentretens bei der Jagd auf die Manticore noch immer zürnte, daneben und dachte an seine verlornen Sammlungen, an seine entomologischen Notizen, deren Werth die Bewohner von Kazonnde kaum zu schätzen wissen würden. Er streckte die langen Beine von sich, kreuzte die Arme auf der Brust und machte dann und wann instinctiv eine Bewegung, als wolle er die Brille, welche ja seiner Nase schon so lange fehlte, auf die hohe Stirn rücken. Der kleine Jack sah wohl ein, daß er hier keinen Lärmen verursachen dürfe; da es jedoch nicht verboten war, sich zu bewegen, so lief er mit seinem Freunde Dingo um die Wette von einem Ende des Bootes zum anderen.
Während der ersten zwei Tage entnahmen Mrs. Weldon und ihre Begleiter alle die nöthige Nahrung aus den Vorräthen, die Herkules sich vor der Abfahrt zu verschaffen gewußt hatte. Dick Sand ließ also nur wenige Stunden in der Nacht anhalten, um sich einige Ruhe zu gönnen. Er ging vorläufig jedoch nicht an’s Land und wollte nur, wenn die Nothwendigkeit, neue Provisionen zu besorgen, an ihn heranträte, das Fahrzeug verlassen.
Der Anfang dieser Reise auf einem völlig unbekannten Flusse von oft nicht mehr als vierzig Meter Breite, wurde durch keinerlei Zwischenfall unterbrochen. Mehrere schwimmende Inseln trieben auf jenem mit der nämlichen Geschwindigkeit wie das Boot dahin. So lange sie also kein unerwartetes Hinderniß aufhielt, brauchte man einen Zusammenstoß mit denselben nicht zu fürchten.
Die Ufer erschienen übrigens vollkommen menschenleer. Offenbar wurden diese Theile des Gebietes von Kazonnde von den Eingebornen sehr wenig besucht.
Nach zwei Stunden war die Sperrung durchbrochen. (S. 426.)
Am Flußrande wucherten wildwachsende Pflanzen in großer Menge und schmückten diesen mit lebhaften Farben. Asclepias, Schwertlilien, Lilien, wilder Wein, Balsaminen, Umbelliferen, Aloës, baumartige Farren und wohlriechende Sträucher bildeten eine Einrahmung von unvergleichlicher Pracht.
Die Elefanten wollten ihren Durst löschen. (S. 428)
Da und dort badeten auch Wälder ihren Rand in dem schnell dahineilenden Wasser. Copalbäume, Akazien mit streifigen Blättern, »Bauhinias« mit eisenfestem Holze, deren Stämme an der den kältesten Winden ausgesetzten Seite dick mit Moos überzogen waren, Feigenbäume, auf Wurzelstämmen wie auf Grundpfeilern gleich den Magnolien thronend, und noch andere prächtige Baumarten neigten sich über die Uferwand. Wenn dann ihre Gipfel bei dreißig und noch mehr Meter Höhe einander trafen, bildeten sie ein grünes Laubdach, das kaum ein Sonnenstrahl zu durchdringen vermochte. Ost entstand auch eine große Brücke von Lianen von einem Ufer zum anderen und im Laufe des 27. sah der kleine Jack zu seiner größten Ueberraschung über diesen Pflanzenpfad eine Heerde Affen ziehen, welche sich gegenseitig an den Schwänzen hielten, für den Fall, daß jener unter ihrer Last in Stücke ging.
Diese Affen, zu den kleinen Schimpansen gehörig, die in Central-Afrika den Namen »Sokos« erhalten haben, bilden eine sehr häßliche Familie des Affengeschlechts, mit niedriger Stirn, hellgelblichem Gesicht und hoch oben stehenden Ohren. Sie leben in Gesellschaft von etwa einem Dutzend beisammen, bellen wie wilde Hunde und werden sehr gefürchtet von den Eingebornen, deren Kinder sie nicht selten rauben und zerkratzen oder jämmerlich beißen. Beim Passiren jener Lianenbrücke ahnten sie offenbar gar nicht, daß unter dem Laub-und Reisighaufen, den der Strom dahintrieb, sich auch ein kleiner Knabe befand, mit dem sie gewiß gern ihr Spiel getrieben hätten. Das von Dick Sand erdachte Fortschaffungsmittel war so täuschend hergestellt, daß selbst jene scharfsichtigen Vierfüßler sich davon täuschen ließen.
Zwanzig Meilen weiter ward das Boot noch an demselben Tage plötzlich aufgehalten.
»Was giebt es? fragte Herkules, der noch immer bei dem Bootsriemen stand.
– Eine Wegversperrung, antwortete Dick Sand, aber eine natürliche.
– So müssen wir sie durchbrechen, Herr Dick!
– Gewiß, Herkules, und zwar mit der Axt. Schon haben verschiedene Inseln darangestoßen, aber sie hat genug Widerstand geleistet.
– An’s Werk also mein Kapitän, an’s Werk!« mahnte Herkules, der im Vordertheil der Pirogue erschien.
Die betreffende Barre bestand aus zähem Grase mit glänzenden Halmen, welche sich durch Zusammenpressen selbst verfilzen und sehr widerstandsfähig werden. Man nennt dasselbe »Tikatika« und es gestattet nicht selten, Wasserläufe trockenen Fußes zu überschreiten, wenn man nicht davor zurückschreckt, in das Pflanzengewirr manchmal ziemlich tief einzusinken. Die Oberfläche der hier vorliegenden Barre war übrigens mit den schönsten Verzweigungen von Lotosblumen bedeckt.
Es wurde schon ziemlich dunkel. Herkules konnte, ohne zu viel auf’s Spiel zu setzen, das Boot verlassen, und er benutzte seine Axt auch mit solchem Geschick, daß die Sperrung nach zwei Stunden durchbrochen war, während die Strömung die beiden Hälften derselben an die Ufer andrängte und die Pirogue ihren Weg fortsetzen konnte.
Sollte man es glauben! Vetter Benedict, das große Kind, hatte einen Augenblick gehofft, daß man nicht hindurchkommen werde. Eine derartige Reise erschien ihm überhaupt langweilig. Er sehnte sich fast nach der Factorei des Jose-Antonio Alvez und nach der Hütte zurück, in der sich seine kostbare Entomologenbüchse noch befand. Dieser Kummer war gewiß ganz gerechtfertigt, denn hier hatte der arme Mann so gut wie gar nichts zu sehen. Nicht ein Insect, nein, nicht ein einziges wurde ihm zur Beute!
Wie groß aber war dafür auch seine Freude, als ihm Herkules – alles in allem doch »sein Schüler« – ein abscheuliches kleines Thier brachte, das er eben von einem Tikatika-Halme aufgelesen hatte. Sonderbar! Der brave Schwarze schien selbst etwas verwirrt, als er es dem gelehrten Herrn einhändigte.
In welche Ausrufe der Entzückung brach aber erst Vetter Benedict aus als er das zwischen Daumen und Zeigefinger gehaltene Insect so nah’ als möglich vor seine kurzsichtigen Augen brachte, denen jetzt ja weder Brille noch Loupe zu Hilfe kommen konnte.
»Herkules! rief er, Herkules! Damit hast Du Dir die Begnadigung erworben! Cousine Weldon! Dick! Eine Hexapode, einzig in ihrer Art und von ausschließlich afrikanischer Herkunft! Diese wenigstens wird mir Niemand abstreiten, sie wird mich nicht verlassen, so lange ich das Leben habe!