Auf einmal steht Leonie vor mir und streckt die Hand nach mir aus. Dabei ist mir ausgesprochen unwohl. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mich einfach nur ganz lieb streicheln will. Zumal mir ein Blick in ihr Gesicht verrät, dass sie sich unglaublich über die viele Aufmerksamkeit ärgert, die Kira nun bekommt. Aber egal – soll sie mich eben auch streicheln. Was kann sie dabei schon Böses anstellen?
Kaum hat sie mich berührt, zieht Leonie auf einmal ihre Hand zurück, als hätte sie ein Stromschlag getroffen. Dann beginnt sie zu keuchen.
»Hilfe!«, krächzt sie dramatisch. »Hilfe! Ich bekomme keine Luft mehr!« Sie wankt einen Schritt zurück und lässt sich direkt in die Arme des völlig überraschten Herrn Prätorius fallen.
»Oh mein Gott! Schnell, Kira, pack deine Katze wieder ein!«, ruft er. »Ich fürchte, die arme Leonie hat einen allergischen Schock erlitten! Schnell!«
Kira braucht einen Moment, um sich aus der Schreckstarre zu lösen, dann packt sie mich und rennt mit mir zu ihrem Tisch. Keine zwei Sekunden später stecke ich völlig verdattert wieder in der dunklen Tasche.
Wer oder was auch immer ein allergischer Schock ist: Das Jucken in meiner Schwanzspitze verrät mir, dass es dieser Leonie nicht halb so schlecht geht, wie sie gerade behauptet. Und meine Schwanzspitze irrt sich nie!
Manchmal verändert ein Tag dein Leben. Und du merkst es erst gar nicht.
Als wir wieder zu Hause ankommen, parkt ein Polizeiwagen vor der Tür. Himmel, ja! Vielleicht war es nicht die beste Idee, Kira in die Schule zu begleiten. Aber deswegen gleich mit der Polizei hier anzurücken, erscheint mir nun doch ein wenig übertrieben. Schließlich haben wir gar nichts gemacht. Und wenn die blöde Leonie nicht eine so ausgezeichnete Schauspielerin wäre, wäre mein erster Schultag ganz entspannt zu Ende gegangen. Stattdessen hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, auch gleich die Direktorin des Wilhelminen Gymnasiums kennenzulernen. Frau Rosenblatt. Aber während ihr Name so zart und blumig klingt, ist sie in Wirklichkeit eine Frau der klaren Ansage. Und die lautete in unserem Falclass="underline" keine Haustiere in der Schule! Ich glaube, wenn Herr Prätorius nicht einfach behauptet hätte, dass Kira seine Erlaubnis für die Aktion hatte – es hätte ein echtes Donnerwetter im Direktorenzimmer gegeben. So war es lediglich eine steife Brise, die uns hier entgegenwehte. Nicht schön, aber verkraftbar.
Dachte ich jedenfalls. Nun aber steht hier die Polizei. Mist. Was machen wir da bloß? Ob mich Kira besser wieder in ihrer Tasche verstecken sollte? Im Fernsehen nimmt die Polizei häufiger mal Menschen mit und sperrt sie in eine Zelle. Ob die das mit Katzen auch so machen? Oder bringen die mich dann direkt ins Tierheim? Ich merke, wie mein Herz rast. Bloß nicht ins Tierheim! Dort gibt es bestimmt kein so schönes Fleckchen wie mein Wohnzimmersofa!
Allerdings wohnen wir nicht allein in der Hochallee. Vielleicht wollen die gar nicht zu uns. Sondern zu Frau von Basewitz im Stockwerk über uns. Falls sie die mitnehmen, würde es mich nicht weiter stören. Die alte Basewitz mag keine Katzen im Allgemeinen und mich im Besonderen nicht. Behauptet immer, schwarze Katzen würden Unglück bringen und dass es auch etwas damit zu tun hätte, ob ich von links nach rechts durch den Flur laufe – oder von rechts nach links. Völlig gaga also, die Alte. Die könnte die Polizei ruhig mal ein bisschen einsperren. Ich weiß, es ist gemein, aber dieser Gedanke beruhigt mich etwas und so trabe ich wieder halbwegs entspannt neben Kira die Treppen zu unserer Wohnung hoch.
Kurz bevor wir an der Wohnungstür ankommen, öffnet sich diese von allein und heraus kommen: MIAU! Zwei Polizisten! Vor Schreck springe ich auf Kiras Arm. Wahrscheinlich ist das nicht besonders klug, denn hier sehen die mich natürlich sofort, aber ich kann nicht anders. Auch Kira scheint sich beim Anblick der Männer erschreckt zu haben. Ich kann hören, dass ihr Herz fast so schnell schlägt wie meins.
»Guten Tag!«, begrüßen sie die beiden Männer. Wahrscheinlich werden sie Kira nun bitten, ihnen ohne Gegenwehr den Kater, also mich, auszuhändigen. Und dann: Ade, du meine schöne Heimat! Ich kralle mich vorsorglich schon mal in Kiras Pullover.
»Hallo«, erwidert Kira. »Suchen Sie etwa mich?«
»Nein, wir suchen deine Katze!«
AAAHH! Ich hab’s gewusst! Hilfe! Sie werden mich verhaften wegen gefährlichen Eingriffs in eine Schulstunde. Ich werde mein geliebtes Sofa nie wiedersehen! In diesem Moment brechen beide Polizisten in Gelächter aus. Was, bitte, ist daran komisch? Der größere der beiden Männer hört schließlich auf zu lachen und räuspert sich.
»Nein, nein. Kleiner Scherz. Wir suchen niemanden. Wir hatten nur ein paar Fragen an Frau Kovalenko.«
Kira zuckt zusammen.
»Oh, das ist meine Mutter!« Die Polizisten zögern kurz, als wollten sie dazu etwas sagen, lassen es dann aber und verabschieden sich stattdessen. Ein sehr seltsamer Auftritt.
Anna steht im Wohnungsflur und wartet schon auf uns.
»Kira! Da bist du ja! Ich hatte eben einen Anruf aus deiner Schule. Erfreulich war der nicht gerade! Wie kommst du auf die verrückte Idee, Winston mit in deine Klasse zu schleppen?«
»Aber Mama, so war das gar nicht«, verteidigt sich Kira. »Winston wollte unbedingt mitkommen.«
Anna schnaubt empört.
»Sag mal, du hältst mich wohl für blöd, oder? Es war nicht deine Idee, sondern die einer Katze? Ein Mädchen ist ernsthaft krank geworden. Ich kann nur hoffen, dass da nicht noch eine Menge Ärger auf uns zukommt. Das ist das Letzte, was ich gerade brauchen kann.« Jetzt ist es an Kira zu schnauben.
»Ich glaube, die doofe Leonie ist gar nicht krank. Die hat nur so getan, um mich zu ärgern. Alle anderen fanden Winston toll! Es war eine klasse Aktion!«
»Was deine Mitschüler finden, interessiert mich nicht. Mich interessiert nur, was deine Direktorin findet, und die war alles andere als begeistert von der Aktion.« Annas Stimme bebt. Sie ist richtig wütend.
»Na klar, meine Mitschüler sind dir egal. Kümmert dich ja nicht, ob ich an der neuen Schule Freunde finde. Hauptsache, du hast deine Ruhe. Meine Probleme interessieren dich nicht.« Bei den letzten Worten fängt Kira an zu weinen. Ich fühle mich mit einem Mal sehr, sehr schlecht. Es war ja tatsächlich meine Idee.
»Das stimmt doch gar nicht, Schatz. Wenn es ein Problem gibt, kannst du es mir erzählen – das weißt du ganz genau. Wir vertrauen uns gegenseitig, schon vergessen?«
»Nein, hab ich nicht. Aber ich glaube, du hast es vergessen. Oder warum erzählst du mir nicht von deinem Ärger mit der Polizei?« Anna zuckt zusammen.
»Das ist nichts, was ein Kind etwas angeht.«
»Ach, auf einmal bin ich wieder das kleine Mädchen, was? Du bist so … so … du bist so ÄTZEND!« Mit diesen Worten macht Kira auf dem Absatz kehrt und rennt wieder aus der Wohnung. Bevor sie die Tür zuschlagen kann, renne ich hinterher. Ich habe den Mist hier verbockt, ich halte jetzt zu ihr! Ehrensache! Auch wenn ich momentan keine Idee habe, wo Kira überhaupt hinwill.
Sie weiß es anscheinend selbst nicht. Unten auf der Straße steht sie jedenfalls erst einmal unschlüssig herum und starrt mal auf den Boden, mal in die Luft. So geht es eine ganze Zeit lang, bis ich beschließe, selbst die Initiative zu ergreifen. Sonst stehen wir womöglich noch morgen hier. Ich fauche lautstark. Hallo, Erde an Kira! Bist du da irgendwo?
»Oh, Mist, Winston, ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll. Wieder nach oben gehen will ich nicht, aber ich habe keine Ahnung, wohin ich sonst könnte. Ich kenne mich in der Gegend noch gar nicht aus und Freunde habe ich hier auch keine. Was für ein doofer Tag!«
Da hat sie vollkommen recht. Der Tag ist bisher richtig doof, und hier wie angenagelt stehen zu bleiben, ist sogar noch doofer. Ich trabe Richtung Hinterhof. Heute ist schon so viel schiefgegangen, da können wir auch gleich meine unfreundlichen Kollegen wieder besuchen. Vielleicht bringt das Kira auf andere Gedanken. Schließlich mag sie Katzen. Und schlimmer wird der Tag schon nicht werden. Kann er ja gar nicht.