Kann er doch. Denn schlimmer geht’s immer: Ich bin noch nicht bei den Mülltonnen angekommen, da stellt sich mir schon der dicke Tiger namens Spike in den Weg.
»Hallöchen, Popöchen! Der Herr Stubenkater gibt sich die Ehre!« Er grinst von einem Ohr zum anderen. Oder besser: Er würde garantiert so grinsen, wenn es ihm als Katze möglich wäre. Das höre ich seinem spöttischen Tonfall genau an. »Ich dachte, wir sehen dich hier nie wieder.«
»Wie kommst du darauf?«, gebe ich mich möglichst selbstbewusst.
»Tja, ich weiß gar nicht, wie ich darauf gekommen bin. Moment, lass mich überlegen. Hm, vielleicht, weil wir nicht in deine besseren Kreise passen? Oder nein, das war es nicht. Jetzt hab ich’s: Ich dachte, du findest den Hof hier gar nicht wieder. So ohne deine Leine. Das war ja wirklich ein sehr schönes Teil. Und so glitzerig!« Er prustet los.
Haha, sehr witzig.
»Natürlich finde ich den Hof. Ich sehe ihn schließlich jeden Tag von meinem Fenster aus«, erwidere ich genervt.
»Wie auch immer. Für den Notfall hast du ja wieder dein Frauchen dabei. Bist du sicher, dass du kein Hund bist?«
Grrrr, so eine bodenlose Unverschämtheit! Zu gern würde ich Spike jetzt mit einer unglaublich geistreichen Antwort abservieren – aber leider fällt mir keine ein. Wo ist nur meine Schlagfertigkeit, wenn ich sie brauche? In der Zwischenzeit ist auch Odette herangestromert. Großartig. Das wird mein neues Hobby: in Anwesenheit einer hübschen Katze dumm aus der Wäsche gucken.
»Ach, schau an: der Premierminister. Wenn das kein hoher Besuch ist! Und nun schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage. Toll!«
»Hallo, Odette. Wollte nur checken, was bei euch gerade so abgeht«, versuche ich es betont lässig. Odette legt den Kopf schief.
»Checken, so abgeht …??? Wo hast du denn den Spruch her? Der passt ja nun gar nicht zu so einem steifen Typen wie dir. Willst wohl einen auf locker machen. Pffff, wie uncool!«
Warum in aller Welt ist die eigentlich so verdammt unfreundlich zu mir? Und warum in aller Welt macht mir das so viel aus? Könnte mir doch egal sein, was diese dahergelaufene Hofkatze von mir denkt. Ist es mir aber leider nicht. Im Gegenteil. Odettes Spott versetzt mir einen sehr schmerzhaften Stich in der Brust. Betreten schaue ich zu Boden. Mein Versuch, hier als ganz entspannter Gentleman-Kater aufzutrumpfen, ist gründlich in die Hose gegangen.
»He, ich wollte nur mal gucken, wie es euch so geht!«, verteidige ich meinen Besuch. »Ich meine, wir sind schließlich Nachbarn, da wird man doch noch vorbeikommen dürfen.«
Odette mustert mich kritisch.
»Ja? Wird man? Hat dich doch bisher auch nicht interessiert, wie es uns hier geht. Ich sehe dich immer an eurem Fenster sitzen und auf uns hinabschauen. Und das meine ich jetzt nicht nur wörtlich. Nee, nee – ich weiß doch, wie du über uns denkst. Ich habe es an deinem Blick gesehen. Du hältst dich für etwas Besseres, nur weil du mit deinem Professor da oben wohnst und ihr sogar ’ne Köchin habt, die dir deine Extrawurst brät.«
Jetzt bin ich baff. Woher weiß Odette das? Offenbar sieht sie mir meine Überraschung an, denn sie legt sofort nach.
»Jetzt verrat ich dir mal was: Deine feine Olga hat nicht nur für euch gekocht. Nein, immer wenn etwas übrig geblieben ist, kam sie in den Hof und hat uns auch etwas gegeben. Sehr lecker! Am besten schmeckte mir immer Geflügelleber mit Petersilie. Einfach ein Traum.«
Bitte? Olga hat MEINE Geflügelleber an die Kollegen im Hof verfüttert?
»Da bist du platt, richtig? Und stell dir vor, was sie immer gesagt hat, wenn sie kam. Sie sagte, dass es ihr viel mehr Spaß machen würde, für uns zu kochen, als für dich. Weil wir das Essen nämlich zu schätzen wissen, während du total verwöhnt bist!«
Ich fasse es nicht – so hat Olga über mich gesprochen? Der Stich in meiner Brust ist jetzt hundertmal schlimmer als der, den ich vorhin gespürt habe. Nein, genau genommen tut mir nicht nur die Brust weh, sondern alles. Ich taumle zur Seite, als ob mich ein heftiger Schlag getroffen hätte. Aber Odette macht unbarmherzig weiter.
»Auf so einen überkandidelten, arroganten Kater wie dich habe ich hier garantiert nicht gewartet. Am besten, du verziehst dich wieder.«
Ich nehme all meine Kraft zusammen, um Odette möglichst fest in die Augen zu blicken. Es fällt mir schwer, aber es muss sein.
»Hatte sowieso nicht vor, länger zu bleiben. Irgendwie ziemlich schlechte Luft hier. Tschüss.« Dann drehe ich mich um und laufe hoch erhobenen Hauptes weiter.
»Warte doch mal, Winston! Wo willst du denn auf einmal so schnell hin?« Kira folgt mir. Sie hat natürlich überhaupt nicht mitbekommen, dass mir gerade etwas Furchtbares zugestoßen ist. Ich maunze mitleiderregend und sie bückt sich zu mir.
»Du Armer, stimmt etwas nicht? Du siehst ja auf einmal furchtbar aus!« Sie krault mich am Hals und ihre Streicheleinheiten tun mir sehr gut. Blöde Olga. Du bist nicht der einzig nette Mensch auf der Welt. Suche ich mir eben einen anderen Zweibeiner zum Kuscheln. Genau genommen bist du nicht mal nett gewesen. Hat sich gerade gezeigt. Verräterin!
»Heute ist nicht so unser Tag, was? Ich schlage vor, wir erkunden jetzt mal gemeinsam das Viertel und machen das Beste daraus. Vielleicht finden wir eine Eisdiele. Und wenn wir an einem Fischgeschäft vorbeikommen, kriegst du einen riesigen Hering. Versprochen!«
Okay, der Plan klingt nicht so schlecht. Und Kira hat natürlich völlig recht: Man muss versuchen, auch aus so einem verkorksten Tag noch etwas zu machen. Wenn dabei ein großer Hering für mich rausspringt – umso besser!
Kira schaut sich kurz um und geht dann mit entschlossenen Schritten die Straße hinunter. Ob sie dort das Fischgeschäft vermutet? Neugierig und schon deutlich besser gelaunt, trabe ich hinter ihr her. Irgendwie macht Spazierengehen mit einem Menschen doch Spaß. Vor allem, wenn ich dabei keine Leine tragen muss.
Die neugewonnene Freude an dem Tag währt allerdings nicht lang. Denn kaum sind wir einen Moment unterwegs, bekomme ich einen Wassertropfen auf die Nase. Nanu, was ist das?
»Och nee, jetzt fängt es auch noch an zu regnen! So ein Mist!«, schimpft Kira vor sich hin. Ach so, das ist also Regen. Interessant. Aber auch unpraktisch. Wasser von oben – da werden wir ja nass! Das mag ich als Kater nun überhaupt nicht.
Der Regen wird immer stärker. In der Ferne fängt es an zu donnern. Am liebsten würde ich sofort umdrehen und nach Hause laufen. Leider weiß ich nicht genau, wo unser Zuhause überhaupt liegt. Ich fürchte, Spike hatte recht: Mein Orientierungssinn ist nicht der beste.
»Komm, Winston, wir müssen uns was zum Unterstellen suchen!«, ruft Kira und rennt los. Ich renne hinterher. Mittlerweile schüttet es wie aus Eimern, und ich merke, wie mein Fell langsam durchweicht.
»Da vorn! Das Baustellenhäuschen. Komm!« Kira hat eine kleine Hütte entdeckt. Sie steht auf einem Platz mit riesigen Fahrzeugen und einer Grube und ist an der Vorderseite offen. Wir können uns also ohne Probleme unter ihr Dach stellen, was wir auch tun. Ich schaue mich um und nehme neben mir eine große runde Spule wahr, auf die hell glänzendes Kabel gewickelt ist. Was mag das sein? Gesehen habe ich so etwas noch nie. Das Ding hat in etwa die Höhe einer Parkbank, weswegen sich Kira einfach obendrauf setzt. Dann nimmt sie mich auf den Schoß. Klitschnass, zitternd und frierend hocken wir dort und warten, dass der Regen aufhört. Leider tut er das nicht. Stattdessen kommt das Donnern immer näher.
Sagte ich vorhin, der Tag sei doof? Ich korrigiere mich. Er ist entsetzlich. Erst der Ärger in der Schule, dann das Desaster mit Odette. Und jetzt der Regen. Ich wünschte, ich wäre nicht hier. Ach was: Ich wünschte, ich wäre jemand anderes. Irgendjemand anderes. Hauptsache nicht mehr Winston Churchill, wohnhaft bei Professor Hagedorn.