»Nee, Winston! Du musst natürlich erst mal Zahncreme auf die Bürste tun und dann die Zähne damit abschrubben. Sonst bringt das nichts.« Mit einem Satz landet Kira auf der Ablage neben dem Waschbecken und schlägt mit der Pfote nach etwas, das wohl die Zahncreme sein muss. Ich nehme die Tube, schraube sie auf und drücke den Inhalt auf die Bürste.
»Kira! Gib mal Gas!« Anna steht vor der Badezimmertür und wundert sich anscheinend schon, warum das heute so lange dauert. Ich merke, wie es auf meiner Stirn plötzlich nass wird. Ihhhh … was ist das? Etwa Schweiß? Dieses Phänomen habe ich schon mal bei Werner beobachtet. Letztes Jahr im Hochsommer. Aber jetzt ist es eigentlich gar nicht heiß … Ob der Schweiß mit dem ganzen Stress hier zusammenhängt? Wahrscheinlich! Warum haben es die Zweibeiner auch immer so verflucht eilig?
»Ich komme gleich!«, wiegle ich ab. Dann schnappe ich mir die Zahnbürste und schrubbe drauflos, was das Zeug hält. Uah, was für ein komisches Gefühl! Es schmeckt äußerst gewöhnungsbedürftig und nun bildet sich auch noch Schaum vor meinem Mund.
Ich betrachte mich im Spiegel. An diesen Anblick werde ich mich bestimmt nicht gewöhnen: Winston als Mensch. Allerdings scheinen Kira und ich die gleiche Augenfarbe zu haben. Zumindest kommt mir das Grün, was mir hier aus dem Spiegel entgegenblickt, sehr vertraut vor. Es ist immerhin eine Farbe, die ich auch als Kater ganz gut erkennen konnte. Irgendwie beruhigt mich das ein bisschen.
»He, Kira, du hast ja auch grüne Augen. Das war mir bisher gar nicht so klar. Aber anscheinend kann ich als Mensch Farben deutlich besser voneinander unterscheiden.«
Kira miaut erstaunt.
»Grüne Augen? Das gibt’s ja gar nicht!«
»Wieso?«
»Na, ich habe eigentlich gar keine grünen Augen. Sondern blaue.« Kira hüpft auf meine Schulter und starrt in den Spiegel. In diesem Moment sehe ich es auch: Kater Winston hat auf einmal blaue Augen. Und ich als Kira grüne. Wir haben also nicht nur unser Wesen, sondern auch unsere Augenfarbe getauscht!
»Auweia!«, maunzt Kira. »Wenn das meine Mutter sieht – die flippt garantiert völlig aus und denkt, das hätte ich extra gemacht. Mit Kontaktlinsen oder so. Und dabei ist sie schon echt sauer, wenn ich mich mal schminken will. Also, das darf sie nicht mitkriegen, sonst gibt’s Ärger, verstanden?«
Äh, ich hab’s gehört. Verstanden habe ich es allerdings nicht. Wie soll ich denn verhindern, dass mir Anna in die Augen schaut? Kira scheint mir meine Zweifel anzumerken.
»Da musst du dir eben etwas einfallen lassen. Wir hatten gestern sowieso ziemlich Stress. Wenn du also so tust, als wärst du immer noch beleidigt, und ihr aus dem Weg gehst, wird sie das nicht wundern. Mach ich meistens so. Ist ja nur für kurze Zeit. Bestimmt tauschen wir bald zurück.«
Kiras Optimismus in allen Ehren – aber das mit dem Zurücktauschen scheint mir noch keine klare Sache zu sein.
»Wieso bist du dir da so sicher? Ich habe nicht die geringste Idee, wie wir das bewerkstelligen könnten.«
Kira seufzt.
»Uns wird schon irgendetwas einfallen. Vorher müssen wir nur verhindern, dass Mama davon Wind bekommt und Stress macht. Es wird nämlich garantiert schwieriger, eine Lösung zu finden, wenn sie uns erst mal auf Schritt und Tritt folgt. Das siehst du doch auch so, oder?«
Ich nicke langsam. Gut, das leuchtet natürlich ein. Trotzdem: Anna aus dem Weg zu gehen, wird nicht so einfach werden. Wenn ich das in den letzten Wochen richtig beobachtet habe, passt sie immer ziemlich gut auf ihre Tochter auf.
Es klopft wieder an die Badezimmertür.
»Kira, was ist denn heute los mit dir?«
»Ich komm sofort!« Bei meinem Fressnapf, ich werde noch irre hier! »Also gut, ich geh da gleich raus. Aber ich garantiere für nichts! Ich weiß nicht, was es heißt, ein Mensch zu sein. Trotzdem werde ich mir Mühe geben!« Noch mal tief durchatmen, dann öffne ich die Tür und verlasse das Bad. Anna steht im Flur und guckt vorwurfsvoll.
»Da bin ich schon!«, murmle ich und blicke dabei zu Boden.
»Schon ist gut! Los, zieh dich schnell an, sonst schaffst du es nicht mehr!«
Zehn Minuten später sitze ich mit Anna am Frühstückstisch und versuche, so lässig wie möglich mein Brötchen zu essen. Erschwert wird das Ganze dadurch, dass mich Anna unablässig anstarrt. Ich räuspere mich schließlich.
»Stimmt was nicht, Mama?« Also, an meiner Kleidung kann es eindeutig nicht liegen. Die Auswahl hat Kira getroffen, indem sie in meinem – oder besser: ihrem – Kleiderschrank herumgesprungen ist und die passenden Teile auf den Boden geworfen hat. Dabei ist ihr sogar eine richtig gute Idee wegen der falschen Augenfarbe gekommen.
Anna mustert mich weiterhin durchdringend.
»Nein, es ist alles in Ordnung. Ich frage mich nur, warum in aller Welt du hier in der Wohnung morgens um halb acht eine Sonnenbrille zum Frühstück trägst.«
In der Höhle des Löwen.
Nee, falsch: In der Schule von Kira!
Mir ist unwohl. Sehr unwohl. Fand ich Kiras Schule gestern noch beeindruckend, kommt sie mir heute angsteinflößend vor. Außerdem fürchte ich, jede Sekunde als Kater enttarnt zu werden.
Während ich noch darüber nachgrüble, wie ich aus dieser Nummer wieder heil herauskomme, trifft mich auf einmal ein fester Schlag auf den Rücken, genau zwischen meine Schulterblätter. Aua, ein Anschlag!
»Morgen, Kira!«, ruft eine Stimme hinter mir fröhlich. Ich drehe mich um. Es ist der Junge mit der großen Brille. Tom – glaube ich jedenfalls, denn Namen kann ich mir nicht sonderlich gut merken. Der war eigentlich ganz nett. Aber warum haut der mir so einfach auf die Schultern? Macht man das bei den Menschen so?
»Also, deine Show mit der Katze, eins a! Und als Leonie dann aus den Latschen gekippt ist: Weltklasse! Wobei ich der Schnepfe im Leben nicht abnehme, dass sie wirklich keine Luft mehr bekommen hat. Die wollte sich doch nur wieder in den Mittelpunkt stellen.«
»Äh …« Mehr fällt mir dazu nicht ein. Nicht besonders intelligent, das gebe ich zu. Der gütige Katzengott will es, dass in diesem Moment wieder die Klingel ertönt. Tom erwartet keine Antwort mehr von mir, sondern hastet die Treppen zum Eingang hoch. Ich laufe einfach hinter ihm her – ich glaube nicht, dass ich mein Klassenzimmer selbst finden würde.
Kurz darauf stehen wir in dem Raum, den ich schon von gestern kenne. Aber wo ist mein Platz? Das konnte ich aus Kiras Schultasche heraus natürlich nicht erkennen. Oder gibt es gar keine festen Plätze und man setzt sich einfach irgendwohin? Mist, ich hätte besser aufpassen sollen, als ich mit Kira hier war – aber wer konnte auch ahnen, dass ich in solch eine Situation geraten würde?
»He, du stehst im Weg.« Natürlich. Leonie. Unfreundlich wie bei unserer letzten Begegnung. Eigentlich habe ich ganz wenig Lust, mich von dieser Rotzgöre blöd anreden zu lassen.
»Ah, du bist wieder genesen. Hervorragend. Ganz hervorragend. Ich schlage vor, du zeigst mir mal kurz, wo ich sitze. Es ist mir in der Sorge um deine Gesundheit tatsächlich vorübergehend entfallen.« Leonie starrt mich an, als hätte ich zwei Köpfe.
»Was?«
Ich seufze.
»Erstens: Das heißt Wie bitte!. Und zweitens: Wo? Sitze? Ich?«
»Äh, da drüben, neben Emilia«, stottert Leonie, zeigt auf den Platz neben der Blondgelockten, die ich schon kenne, und verschwindet ganz schnell. Okay. Deutliche und klare Ansagen wirken bei der dummen Pute. Gut zu wissen! Ein Mädchen, das direkt neben mir steht, pfeift.