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In diesem Moment streift etwas sehr Weiches meine Hand. Kurz darauf leckt eine raue Zunge die Tränen von meinen Fingern. Odette. Sie ist zu mir auf den Mülltonnenunterstand gesprungen. Ich betrachte sie und stelle wieder einmal fest, dass sie wunderschön aussieht. Odette guckt mich ebenfalls an, dann legt sie ihren Kopf auf meinen Schoß und fängt an zu schnurren. Okay, auch wenn ich mich nicht mehr mit ihr unterhalten kann, bin ich mir ganz sicher, was das heißt: Streichle mich!

Ich lasse meine Finger durch ihr Fell gleiten. Eigentlich wollte ich Odette gehörig zusammenfalten, so boshaft wie sie mich das letzte Mal behandelt hat. Schließlich bin ich nun ein Mensch und viel größer als sie. Da hätte eine Standpauke bestimmt gehörig Eindruck gemacht. Aber nun genieße ich einfach das Gefühl, sie so nah bei mir zu haben. Gleichzeitig vermisse ich in diesem Moment mein Leben als Katze so stark, dass ich fast maunzen könnte. Wenn ich gerade jetzt ein Kater wäre – und ich säße hier mit Odette so zusammen … Ich merke, wie mein Herz anfängt zu rasen und sich ein seltsames Gefühl in meinem Magen ausbreitet. Herzrasen und Magendrücken – ob ich wohl krank werde?

Kurz überlege ich, ob ich Odette einfach erzählen soll, dass ich eigentlich Winston bin. Vermutlich kann sie Menschen verstehen. Ich konnte es jedenfalls, als ich noch ein Kater war. Aber selbst wenn sie es kann, wird sie mir wahrscheinlich nicht glauben, sondern mich für völlig durchgedreht halten. Die Geschichte ist ja auch total verrückt.

»Ach, hier bist du! Ich habe dich schon überall gesucht. Aber ich komm ja nicht allein aus der Wohnung. Das ist vielleicht doof!«

Kira springt zu uns auf den Unterstand. Schade, jetzt ist es mit der Zweisamkeit natürlich vorbei! Odette zieht ihren Kopf weg und faucht kurz, dann legt sie sich wieder hin. Da kommt mir eine Idee.

»Kannst du hören, was sie gesagt hat?«, will ich von Kira in Gedanken wissen.

»Na klar. Ist aber nicht besonders schmeichelhaft für dich«, erwidert sie.

»Das habe ich mir schon gedacht. Ich will’s trotzdem wissen«, sage ich tapfer.

Kira kichert in Gedanken.

»Okay, du hast es nicht anders gewollt! Sie hat gesagt: Hallo, du Weichei, traust du dich auch wieder hierher? Beste Freunde seid ihr nicht, oder? Na ja, was sich liebt, das neckt sich.«

»Wie meinst du das denn?«, will ich wissen.

»Ach, das ist nur so ein Spruch. Wenn sich zwei Leute richtig gern haben, dann kann es sein, dass sie sich deswegen besonders häufig streiten. So ist das jedenfalls bei Menschen. Wie das bei Katzen ist, weiß ich nicht.«

Ich merke, wie mir warm wird. Verstohlen betrachte ich Odette, die immer noch entspannt auf meinen Beinen liegt.

»Also, ich glaube nicht, dass mich Odette mag. Sie hält mich für einen eitlen, verwöhnten Kater. Und für arrogant. Dabei stimmt das gar nicht.«

Kira legt den Kopf schief und mustert mich.

»Stimmt nicht?«

Ich schüttle heftig den Kopf.

»Nein! Das stimmt überhaupt nicht! Ich bin vielleicht gebildet. Aber eingebildet bin ich ganz sicher nicht. Und wenn, dann nur ein ganz kleines bisschen.« Dazu schweigt Kira. Vielsagend, wie mir scheint. Das ärgert mich.

»Überhaupt ist das alles nur Olgas Schuld«, füge ich deshalb trotzig hinzu.

»Was hat denn meine Tante damit zu tun?«, will Kira erstaunt wissen.

»Sie war es, die Odette erzählt hat, dass ich so verwöhnt sei. Richtig gemein ist das! Odette kennt mich gar nicht wirklich, ich war ja immer in der Wohnung. Das sind also alles nur Gerüchte und deine Tante hat sie in Umlauf gebracht.«

Jetzt ist es an Kira, trotzig zu reagieren.

»Das kann ich mir nicht vorstellen. Das sieht meiner Tante gar nicht ähnlich.«

»Hat sie aber gemacht. Und mein wertvolles Futter hat sie der Bande auch gegeben. Frag Odette!«

»Mach ich!«

Kira rückt ein bisschen näher an uns heran und maunzt. Odette hebt überrascht den Kopf und maunzt ebenfalls. Faszinierend. Die beiden unterhalten sich offenbar – und ich kann kein Wort verstehen. Eine Weile geht das so hin und her, dann rappelt sich Odette auf, springt vom Unterstand und verschwindet im hinteren Teil des Hofs.

»Was ist los?«, will ich von Kira wissen.

»Ich habe gerade was klargestellt,« lautet die Antwort. »Nämlich, dass meine Tante garantiert nie behauptet hat, dass du arrogant bist.«

»Hä? Aber wie hast du das Odette verklickert? Hast du ihr etwa von unserem Tausch erzählt?«

»Natürlich nicht. Das würde sie mir sowieso nicht glauben. Nein, ich habe ihr einfach gesagt, dass ich noch mal nachgedacht habe. Und dass ich inzwischen weiß, dass meine Olga nie so etwas Gemeines über mich erzählt hätte.«

»Und dann? Wie hat Odette reagiert?«, frage ich neugierig.

»Sie hat ziemlich schnell eingeknickt und zugegeben, dass ihre Geschichte nur eine Lüge war, um mich, also eigentlich dich, zu ärgern.«

»Na, dann bin ich ja beruhigt.« Zumindest wegen Olga. Die blöde Odette kann mir in Zukunft so was von gestohlen bleiben!

»Gefüttert hat meine Tante Odette und ihre Freunde allerdings wirklich. Sie liebt eben Katzen!«, fügt Kira hinzu.

Ich nicke und beim Gedanken an Olgas Freundlichkeit werde ich wieder ein bisschen traurig. Aber schon spricht Kira weiter.

»Jetzt vergiss mal die ganze Sache mit Olga und Odette, Winston! Wir müssen über etwas sehr viel Wichtigeres reden.«

»Ach ja, und über was?«

»Über unsere Ermittlungsstrategie. Wir müssen uns überlegen, wie wir Vadim am besten auf die Schliche kommen.«

»Aha.« Meine Begeisterung für das Thema hält sich momentan arg in Grenzen. Lieber würde ich ein wenig im Selbstmitleid schwelgen, weil ich so ein armer, von Odette unverstandener Kater bin. Gefangen im Körper einer Zwölfjährigen, die mich ebenfalls nicht versteht.

»Nun komm schon, Agent Winston. Ich habe da auch bereits eine gute Idee. Ach was – sie ist brillant!«

Erste Gehversuche als Agent.

Wenn nur nicht so viel Mathe dafür nötig wäre!

»Also, wenn du diesen einfachen Text nicht auswendig lernen kannst, dann musst du ihn dir wohl oder übel aufschreiben.«

»Auswendig lernen? Was ist das denn?«

»Mann, Winston! Für einen Professorenkater könntest du schon etwas schlauer sein.«

Wie bitte? So eine Frechheit!

»Ich kenne keine Katze, die schlauer ist als ich!«, schnaube ich empört.

»Odette hat recht. Du bist echt ziemlich eingebildet. Umso seltsamer, dass du nicht weißt, was Auswendiglernen heißt. Aber was soll’s, ich erkläre es dir: Beim Auswendiglernen liest du einen Text so oft, bis du ohne nachzuschauen weißt, was du sagen willst. Und genau so machen wir es hier. Ich schreibe dir etwas auf, womit du meine Mutter eine Zeit lang ablenken kannst. Du lernst es auswendig, und sobald sie vom Einkaufen zurück ist, sprichst du mit ihr. Während sie mit dir Mathe übt, filze ich ihre Handtasche und suche nach Hinweisen. Irgendwo muss sie ihr Tagebuch doch haben. Im Zimmer habe ich es jedenfalls nicht gefunden. So weit alles klar?«

»Wie Kloßbrühe.« Das klingt wirklich einfach. Eine Sache fuchst mich allerdings sehr. Am besten, ich kläre sie gleich. Ich schicke ein paar böse Gedanken an Kira. Die zuckt zusammen.

»He, alles in Ordnung? Warum bist du plötzlich so fies zu mir? Ich will dir doch nur helfen!«

»Nein, es ist nicht alles in Ordnung, Kira«, antworte ich aufgebracht. »Dafür, dass du auch erst seit Kurzem in einem neuen Körper steckst, bist du nämlich ganz schön frech. Ich meine, du kannst zu Hause auf meinem Lieblingssofa rumliegen und musst die Wohnung überhaupt nicht verlassen, während ich in der Schule und sonst wo meinen Kopf für dich hinhalten soll. Beziehungsweise deinen Kopf. Na, du weißt schon, was ich meine. Wenn du mich fragst – ich habe von uns beiden den eindeutig schwereren Job. Deine Vorhaltungen, was ich schon alles wissen müsste, kannst du dir also echt sparen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass du zurzeit auch eine miserable Katze abgibst.« So. Zack. Ich hoffe, das hat jetzt mal gesessen. Kira guckt mich mit großen Augen an.