»Dosenfutter? Für Winston?« Olga lacht.
Was, bitte schön, ist daran so lustig?, frage ich mich. Und was ist überhaupt Dosenfutter?
»Ja, natürlich. Warum denn nicht? Ich habe mir den Inhalt durchgelesen und es klang sehr lecker. Pute mit Reis.«
Olga lacht immer noch, ich bin fassungslos. Das, was ich in meinem Napf gesehen habe, war niemals Pute mit Reis. Es sah eher aus wie die feuchte Blumenerde, die Olga im Frühling immer auf dem Balkon stehen hat, wenn sie die Zimmerpflanzen umtopft.
»Ich glaube nicht, dass unser Winston Dosenfutter frisst. Dafür ist er viel zu verwöhnt. Ich koche immer frisch. Für den Kater und den Professor. Das kannst du dir schon mal merken.«
Erstens: Olga hat recht. Zweitens: Warum soll sich Anna das merken? Versteh ich nicht. Hauptsache, Olga weiß, was Werner und mir schmeckt.
»Okay, schreib ich mir gleich in mein Buch. Hoffentlich mache ich nicht alles falsch, wenn du nicht mehr da bist.« Anna seufzt.
»Keine Sorge. Das wird schon. Nächste Woche kann ich dir noch alles zeigen. Und du kannst mich auch immer anrufen, wenn du Fragen hast.«
Moment mal! Was heißt denn: wenn du nicht mehr da bist? Da muss ich mich wohl verhört haben! Olga gehört so sehr in die Hochallee 106a wie Werner, mein zwei Meter hoher Kratzbaum aus Samt und unsere Regalwand mit den vielen Büchern. Und natürlich ich. Andersherum: Hochallee 106a ohne Olga funktioniert nicht. Da kommen dann solche Sachen wie »Pute mit Reis« aus der Dose bei raus.
Aber tatsächlich zieht diese Anna jetzt ein Büchlein und einen Stift aus ihrer Hosentasche und beginnt, darin herumzukritzeln. Muss ich daraus schließen, dass Olga ernsthaft plant, uns zu verlassen? Ein sehr unangenehmes Gefühl beschleicht mich, ein sanfter, aber dauerhafter Druck auf meinen Katerbauch. Gut, dass der noch so leer ist, sonst wäre dieses Gefühl wahrscheinlich sogar schmerzhaft. Wenn du nicht mehr da bist – je länger ich über diesen Satz nachdenke, desto schneller schlägt auch mein Herz. Ich mag es nämlich gar nicht, wenn sich Liebgewonnenes in meinem Leben ändert. Ich würde sogar sagen: Ich hasse es!
Klick, klick – ein Schlüssel dreht sich im Schloss der Wohnungstür. Werner! Der muss den ganzen Unsinn stoppen, und zwar sofort! Mit meinem Professor lebe ich schon so lange zusammen, dass er mich auch ohne Worte versteht. Ich flitze also zur Wohnungstür, und kaum steht Werner im Flur, beginne ich, wehleidig zu maunzen und mich vor ihm auf dem Boden hin- und herzuwälzen.
»Mensch, Winston, was ist denn mit dir los?« Werner zieht seine Cordjacke aus und bückt sich zu mir. »Hast du Bauchweh?« Liebevoll streicht er über mein Bäuchlein. Dann richtet er sich wieder auf. »Olga? Ich bin zurück! Ich glaube, Winston geht’s nicht gut.« Mein Professor! Einfach Weltklasse. Hat sofort geblickt, dass es ein Problem gibt.
»Moment!«, tönt es aus der anderen Ecke der Wohnung. »Komme gleich!«
Ich beschließe, die Mitleidsnummer noch ein wenig auszubauen, bevor Olga hier aufkreuzt und vielleicht findet, dass ich mich zu sehr anstelle. Also miaue ich noch wimmernder und bleibe schließlich auf dem Rücken liegen, alle viere von mir gestreckt. Wenn das kein Bild des Jammers und des Elends ist!
»Oh, was hat der Kater?«
»Tja, er scheint sich gar nicht wohlzufühlen. Haben Sie ihn heute schon gefüttert?«
Olga nickt. »Anna hat ihn gefüttert. Allerdings mit Dosenfutter. Ich habe noch gar nicht nachgeschaut, ob Winston das überhaupt angerührt hat. Vielleicht hat er einfach nur Hunger, weil es ihm nicht geschmeckt hat.«
»Dosenfutter?« Werner schüttelt den Kopf. »Das geht natürlich nicht, dass Sie in Zukunft Ihren Dieter bekochen und wir hier mit Fast Food vorliebnehmen müssen.«
Fast was? Versteh ich nicht. Aber macht nichts, denn es ist offenbar etwas, das sowieso nicht schmeckt. Der Hinweis auf Dieter ist allerdings interessant … ich habe nämlich irgendwie das Gefühl, dass mir dieser Kerl noch einige Probleme bereiten wird. Zumindest ist der Name in letzter Zeit verdächtig häufig aufgetaucht, verbunden mit einem schwärmerischen Seufzen von Olga. Dieter ist wohl jemand, der ihr viel bedeutet. Und zwar so viel, dass sie in Zukunft lieber für ihn anstatt für Werner und mich kochen möchte. Zum Fellraufen ist das!
Olga lacht.
»Keine Sorge, ich werde meiner Schwester noch zeigen, was ihr hier gern esst. Dieter setze ich übrigens erst mal auf Diät, der hat in letzter Zeit ganz schön zugelegt.«
»Kein Wunder. Wer sich die beste Köchin der Welt als Frau angelt, der kommt um ein paar zusätzliche Pfunde wohl nicht herum. Und wissen Sie was?« Werner macht eine Kunstpause.
»Nee.« Olga schüttelt den Kopf.
»Ich beneide Dieter glühend. Ich würde, ohne zu zögern, fünf Kilo zunehmen, wenn ich Sie dafür behalten dürfte. Von mir aus auch zehn. Dass Sie uns verlassen, betrachte ich als echte Katastrophe!«
WAS? Es ist wirklich wahr? Olga wird gehen und Werner kann es nicht verhindern? Das ist eine echte Katastrophe! Egal wie man es betrachtet! Ich rolle mich vom Rücken auf die Seite und lege den Kopf ganz schlapp auf den Boden. Mir ist schwindelig. Vor Kummer – oder vom vielen Rumrollen.
»Schauen Sie mal, Olga: Winston sieht schon ganz mickrig aus. Dem gefällt es auch gar nicht, dass wir bald ohne Sie auskommen müssen.«
»Ach, Herr Professor, nun hören Sie auf damit! Sonst fühle ich mich richtig schlecht! Außerdem haben wir doch bereits die perfekte Nachfolgerin für mich gefunden. Meine Schwester Anna wird sich als neue Haushälterin bestimmt noch viel liebevoller um Sie beide kümmern, als ich es bisher getan habe. Anna ist schließlich Mutter. Die hat viel Übung im Kümmern.«
Na und? Das leuchtet mir nun gar nicht ein. Was hat denn Muttersein mit Kümmern zu tun? An meine eigene Mutter kann ich mich nur schwach erinnern. Falls die sich sehr um mich gekümmert hat, hat sie das jedenfalls nicht besonders lang getan – ich war schließlich noch ziemlich klein, als mich Werner beim Züchter abgeholt hat. Seitdem sorgt er gemeinsam mit Olga für mich, und das klappt so gut, dass ich keinen Grund zur Beschwerde habe.
»Ach, Ihre Schwester hat ein Kind?« Werner klingt erstaunt.
Olga nickt. »Eine Tochter, zwölf Jahre alt. Ein süßes Mädchen. Sehr gut in der Schule, vor allem in Sprachen. Als meine Schwester mit Kira vor vier Jahren nach Deutschland kam, sprach das Mädchen noch kein Wort Deutsch, und nun hört man gar nicht mehr, dass sie nicht hier geboren wurde.«
Aha. Woran soll man das auch hören? Verstehe ich nicht. Kann man den Menschen sonst anhören, wo sie geboren wurden? Das wusste ich nicht.
Olga lächelt. »Kira begleitet ihre Mutter bestimmt gern mal hierher und spielt ein wenig mit Winston. Dann ist dem auch nicht mehr langweilig.«
Hallo? Mir ist überhaupt nicht langweilig! Woher hat Olga nur so eine abwegige Idee? Mein Leben gefällt mir genau so, wie es jetzt ist. Ich möchte keine Veränderung. Und erst recht möchte ich kein Kind zu Besuch, das mit mir spielen will. Im Gegenteiclass="underline" Ich HASSE Kinder! Sie sind laut und ungezogen, und bisher hat mich noch jedes Kind, das mir begegnet ist, irgendwann geärgert. Mich zum Beispiel an meinen langen Schnurrbarthaaren gezogen. Oder gar versucht, diese abzuschneiden.
Werner hat einen Bruder mit drei besonders ungezogenen Rotznasen: zwei kleine Mädchen, Zwillinge, und einen etwas größeren Jungen. Die drei quälen mich jedes Mal, wenn sie in der Hochallee zu Besuch sind. Weihnachten, Ostern – egal welches Familienfest gefeiert wird, diesen Kindern fallen immer die hirnrissigsten Sachen ein. Beim letzten Weihnachtsfest haben sie zum Beispiel versucht, mir eine rote Zipfelmütze auf dem Kopf zu befestigen, damit ich aussehe wie der Weihnachtsmann. Mit Klebstoff! Das muss man sich mal vorstellen! Natürlich hat Werner mit den drei Mini-Terroristen geschimpft, aber da war es schon zu spät: Die Mütze klebte so fest in meinen Haaren, dass Olga sie mir mit einer Nagelschere aus dem Fell schneiden musste. Danach sah ich aus wie der letzte Idiot. Einfach furchtbar! Ich, Winston Churchill, völlig entstellt.