»Tut mir leid!«, murmle ich zerknirscht. »Aber ich heiße wirklich Kira Kovalenko. Mein Spitzname ist nur Winston, weil … weil … äh, weil ich so gut Englisch kann.«
»Soso. Und wie alt bist du?«
Grundgütige Ölsardine – immer diese Fachfragen! Wie alt war ich denn noch mal? Zwölf oder dreizehn? Ich bin mir nicht sicher. Aber wenn ich jetzt sage, dass ich es nicht genau weiß, wird der Typ es nicht glauben. Wahrscheinlich wird er dann noch ungemütlicher werden. Also sage ich mit fester Stimme:
»Zwölf.«
»Also noch keine vierzehn.«
»Nein.«
»Aha. Glück gehabt.«
Ich bin verwirrt. Wieso habe ich dann Glück gehabt? Offenbar sieht mir der Mann meine Verwirrung an.
»Na, wenn du vierzehn wärst, dann wärst du schon strafmündig. Dann müsstest du jetzt vor Gericht und würdest zu einer richtigen Strafe verknackt werden. So rufe ich jetzt zwar auch die Polizei, aber die werden im Wesentlichen nichts anderes machen, als mit deinen Eltern zu schimpfen.«
Bei dem Wort Polizei zucke ich zusammen. Nicht schon wieder die! Wenn die Polizei erst mal hier aufkreuzt, wird es garantiert unmöglich, diesen Vorfall irgendwie vor Anna und Werner zu verheimlichen. Und dann gibt’s bestimmt richtig Ärger – da habe ich den Heringssalat!
»Muss denn das mit der Polizei sein?«, mache ich einen zaghaften Versuch in Richtung Schadensbegrenzung. »Ich könnte das T-Shirt doch einfach bezahlen. Dann wäre alles wieder gut.« Okay, ich habe zwar gar kein Geld, aber vielleicht lässt sich der Detektiv auf Verhandlungen ein.
Der schüttelt entrüstet den Kopf.
»Nee, kommt gar nicht infrage! Das hättest du dir eher überlegen müssen. Und überhaupt – auffälliger ging es ja wohl kaum. Da kannst du dich mal bei deinen feinen Freundinnen bedanken. Ich glaube, wenn die eine nicht noch in die Kamera gewunken und auf dich gezeigt hätte, hätte ich dich gar nicht bemerkt.«
WAS? Die haben mich absichtlich reingeritten? Also, nicht nur absichtlich hiergelassen, sondern mir auch den Detektiv auf den Hals gehetzt? Ist es vielleicht das, was Pauli heute Morgen mit »eine Falle stellen« meinte? Ich merke, wie Tränen in meine Augen schießen. Aber nicht, weil ich traurig bin. Sondern wütend. SO WÜTEND!
Die Polizistin auf der Wache ist eigentlich ganz nett zu mir. Ich habe ihr mein Herz ausgeschüttet und ihr von der Mutprobe erzählt. Und von dem Vormittag in der Schule und dem Zettel, den Leonie geschrieben hat. Sie hat sehr verständnisvoll genickt und mir immer wieder Taschentücher gereicht, weil ich einfach nicht aufhören konnte zu weinen. Wegen der Schlechtigkeit der Menschenwelt! Und wegen meiner eigenen Blödheit, auf diese dummen Ziegen reingefallen zu sein! Ein toller Kater bin ich – werde von vier Schulmädchen ausgetrickst.
Leider lässt sich die Polizistin trotz ihres Mitgefühls nicht davon abbringen, meine Mutter anrufen zu wollen. Also Anna. Nicht meine Katzenmutter natürlich. Was sollte die auch zu der ganzen Geschichte sagen? Die kann ja gar nicht mit Menschen sprechen.
Oje, was mache ich nur, wenn Anna hier aufkreuzt? Ich glaube, ich bin noch nicht gewappnet für einen richtigen Streit mit meiner Menschenmutter. Wenn doch bloß Kira hier wäre! Sie könnte mir heimlich Tipps geben, was ich am besten antworte oder auch besser lasse, wenn mich Anna richtig in die Mangel nimmt.
Das bringt mich auf eine geniale Idee … Ob ich mich mit Kira wohl über größere Entfernungen in Gedanken unterhalten kann? So wie bei einem Telefonat? Da können Menschen schließlich mit Menschen sprechen, die gar nicht im selben Raum und manchmal sogar furchtbar weit weg sind. Das habe ich sowohl bei Werner als auch bei Anna und Olga schon beobachtet. Sollte das klappen, wäre es natürlich ungemein praktisch. Ach was: Es wäre sensationell! Dann könnte ich Kira bestimmt herbeidenken.
Ich konzentriere mich also auf Kira:
Liebe Kira, ich stecke hier wirklich knietief im Schlamassel. Ach was, sogar bis zum Hals. Also, wenn Anna gleich einen Anruf bekommt und das Haus verlässt, dann bitte, bitte, bitte versuche unter allen Umständen, sie zu begleiten. Ich brauche dich hier ganz dringend! Drei Ausrufezeichen!!!
»Kira?« Offenbar hat die Polizistin mich gerade etwas gefragt und wartet auf eine Antwort.
»Äh, ja?«
»Alles in Ordnung bei dir? Du wirkst auf einmal so weggetreten.«
»Schon gut. Alles in Ordnung. Ich musste nur gerade an etwas denken.«
»Okay. Dann rufe ich jetzt deine Mutter an.«
Ich seufze. Und hoffe sehr, dass meine Gedankenübertragung funktioniert hat.
Etwas Licht kommt ins Dunkel.
Und ein Plan wird gefasst.
»Mama!« Als Anna in das Büro auf der Polizeiwache tritt, springe ich von meinem Stuhl auf und werfe mich in ihre Arme. Gleichzeitig versuche ich, möglichst unauffällig an ihr vorbei auf den Flur zu linsen. Ob Kira mitgekommen ist? Tatsächlich! Sie sitzt direkt auf der Türschwelle und schwenkt ihren Schwanz nervös hin und her.
»Kira, was ist passiert?«, will Anna aufgeregt von mir wissen. »Wie konntest du nur auf so eine Idee kommen?«
»Genau, Winston, was hast du da angestellt?«, höre ich nun auch Kiras Gedanken.
»Also, im Wesentlichen habe ich versucht, deine Ehre zu retten«, erwidere ich.
»Bitte was? Und warum endete dieser Versuch auf einer Polizeiwache?« Kira schleicht vorsichtig in das Büro und setzt sich neben Anna, die mich immer noch im Arm hält.
»He, Sie«, spricht die Polizistin Anna daraufhin an, »haben Sie etwa ein Tier mitgebracht? Das ist hier aber nicht erlaubt!«
Anna lässt mich los und dreht sich zu der Polizistin um. »Ich weiß und es tut mir auch leid. Aber ich habe es nicht geschafft, das Haus ohne den Kater zu verlassen. Er hat sich wie verrückt aufgeführt und sich in meiner Kleidung festgekrallt. Wenn ich ihn nicht mitgenommen hätte, wäre ich jetzt noch nicht da.«
Die Polizistin zieht die Augenbrauen so hoch, dass sie fast ihren Haaransatz berühren. Man kann ihr deutlich ansehen, dass sie Anna kein Wort glaubt. Anna seufzt und versucht es mit einer anderen Erklärung.
»Na ja, und außerdem ist Winston Kiras bester Freund. Ich dachte, es wäre gut, wenn ich ihn dabeihätte. Sie klang am Telefon so aufgewühlt.«
Da hat Anna recht. Als mir die Polizistin eben kurz den Hörer reichte, habe ich mir die größte Mühe gegeben, möglichst dramatisch zu klingen. Ich dachte mir, wenn sich Anna Sorgen um mich macht, dann stimmt sie das vielleicht ein wenig gnädiger.
»Los, Winston, nimm mich auf den Arm!«, höre ich Kiras Gedanken. »Wenn Mama schon behauptet, dass sie mich zu deiner Beruhigung mitgenommen hat, musst du dich auch ein bisschen um mich kümmern. Außerdem würde sie das vielleicht ein wenig besänftigen. Sie ist nämlich echt sauer. Am besten, du lieferst eine gute Show!«
Richtig. Bevor die Polizistin Kira gleich wieder an die Luft setzt und es ein Donnerwetter von Anna gibt, sollte ich aktiv werden. Mit einem lauten Ja, wo ist denn meine Miez-Miez? bücke ich mich also zu Kira und nehme sie auf den Arm.
»Liebster Winston, ich habe dich sooo vermisst«, flöte ich dann, was das Zeug hält, und hoffe, dass meine plötzliche Tierliebe überzeugend wirkt. Ich drücke Kira ganz fest an meine Brust und vergrabe mein Gesicht in ihrem Fell.
»Ey, pass auf, ich krieg fast keine Luft mehr!« Kira faucht und ich lockere meinen Griff ein wenig. Im Schmusen mit Katzen habe ich als Mensch offenbar zu wenig Übung. Konnte ja nicht ahnen, dass Katzen so empfindlich sind!
Die Polizistin mustert mich.
»Na gut, wenn es Kira dann besser geht und sie nicht mehr weint, kann die Katze ausnahmsweise dableiben. Ich muss sowieso ein paar Formalien mit Ihnen erledigen, Frau Kovalenko. Also, Kira, dein Winston darf bleiben, wenn du ruhig hier sitzt und kein Theater machst, während ich mit deiner Mutter nebenan ein paar Sachen bespreche. Verstanden?«