In meinem Hals bildet sich ein Kloß. Als Kater bin ich eher ein Einzelgänger und hänge mein Herz nicht gleich an den erstbesten Zweibeiner – aber ich muss zugeben, dass ich Kira mittlerweile schon ganz schön gern mag und die Aussicht, dass sie in ernsthafte Schwierigkeiten geraten könnte, mir gerade überhaupt nicht gefällt. Wie kann ich ihr bloß helfen?
»Wenn mir Mama doch bloß erzählen würde, was das Problem ist! Dann könnten wir gemeinsam einen Schlachtplan entwerfen und vielleicht könnte uns sogar dein Herrchen, der Professor, helfen. Der ist doch so schlau, dem fällt bestimmt etwas ein. Aber leider will Mama wohl auf keinen Fall, dass Professor Hagedorn etwas von ihren Schwierigkeiten mitbekommt. Und ich soll auch nichts merken. Es ist echt zum Verzweifeln! Mein Leben gefällt mir gerade überhaupt nicht!« Wieder ein abgrundtiefer Seufzer.
Also nein – das darf auf keinen Fall so bleiben! Bei meinen langen Schnurrbarthaaren: Ich, Winston, werde dafür sorgen, dass Kira schon bald wieder ein glückliches Mädchen sein wird. Oder zumindest kein unglückliches mehr. Ich weiß zwar noch nicht, wie ich das anstellen kann. Aber irgendetwas wird mir schon einfallen. Schließlich bin ich ein Kater und einem Kater kommt immer eine gute Idee. Sonst hätte ich ja gleich ein Hund werden können!
Der erste Gedanke ist oft der beste. Ich beschließe deshalb, meine Idee, mich in Kiras Schule zu mogeln und dort die doofe Leonie zu beeindrucken, gleich am nächsten Tag in die Tat umzusetzen. An dem Ärger mit der Polizei kann ich als Kater vermutlich sowieso nichts ändern. An dem Ärger mit den Ziegen schon! Ich muss nur eine günstige Gelegenheit abpassen, um aus der Tür zu kommen, dann laufe ich einfach hinter Kira her. Kann so schwer eigentlich nicht sein.
Während ich mir in den letzten Wochen angewöhnt habe, mich wieder aufs Ohr zu hauen, sobald Kira im Bad verschwunden ist, springe ich an diesem Morgen aus meinem Körbchen und sause zur Wohnungstür. Vor dem Frühstück holt Anna nämlich immer die Zeitung von unten, und das ist meine Chance, unbemerkt aus der Wohnung zu kommen. Denn Anna lässt die Tür normalerweise einen Spalt offen. Mein Plan ist, dass ich mich im Flur verstecke und so lange warte, bis Kira die Wohnung verlässt. Das dürfte niemandem auffallen.
Tatsächlich achtet Anna überhaupt nicht auf mich, als sie die Tür öffnet und zum Zeitungskasten geht. Ich schleiche nach draußen und springe die Treppenstufen zum nächsten Stockwerk hoch. Hier warte ich, bis ich Kiras Schritte höre, sause hinter ihr her und erwische sie, kurz bevor sie die Haustür öffnet.
»He, Winston, was machst du denn hier?« Kira ist natürlich völlig überrascht, schickt mich aber nicht wieder in die Wohnung. Sehr gut! Teil eins meines Plans hat schon mal geklappt. Jetzt muss ich Kira nur noch klarmachen, dass ich sie begleiten will. Und zwar ohne Leine!
»Willst du wieder zu deinen neuen Freunden in den Hof?« Ich fauche laut und deutlich und hoffe, dass das als klares Nein zu verstehen ist. Kira guckt mich ratlos an. »Willst du nicht? Hm, was willst du dann? Einfach spazieren gehen? Aber dafür habe ich jetzt leider keine Zeit. Ich muss in die Schule.« Genau! Ich auch! Ich versuche es mit einem lang gezogenen Schnurren. Kira schüttelt ungläubig den Kopf.
»Willst du etwa mit in die Schule?« Bingo! Hundert Punkte! Sehr schlaues Mädchen! Ich streiche ihr um die Beine und schnurre weiter. »Hm, ich glaube nicht, dass ich dich dahin mitnehmen darf. Das ist bestimmt gegen die Regeln.« Pah! Regeln sind etwas für Feiglinge – und nichts für Katzen! Wir müssen es der fiesen Leonie zeigen! Da können wir uns mit solchen Kleinigkeiten wie den Schulregeln nicht lange aufhalten.
Ich klebe mittlerweile förmlich an Kiras Beinen. Sie kichert, bückt sich und hebt mich hoch.
»Okay, Winston. Ich nehme dich mit. Aber du musst mir versprechen, dich eins a zu benehmen. Noch mehr Ärger kann ich momentan überhaupt nicht gebrauchen. Klar?«
Klar wie Kloßbrühe. Ich maunze laut.
»Gut. Dann komm mit!«
Hurra! Auf zu den Ziegen!
Ein seltsamer Ort namens Schule.
Oder: Wie ich den halben Tag in einer Umhängetasche verbrachte.
Das Gebäude ist riesig. RIESIG. Also, ich dachte immer, unser Haus sei groß. Doch dieses hier übertrifft alles, was ich jemals gesehen habe. Gut, das ist nicht besonders viel, aber trotzdem! Wow! Ein gigantisches weißes Haus mit einer großen Eingangstür und einem Turm. Fast wie ein Schloss! Ich bin tief beeindruckt. Ob alle Schulen so aussehen? Irgendwie wird mir gerade ein bisschen unheimlich und ich muss mich sehr beherrschen, um mich nicht in Kiras Arme zu krallen.
Reiß dich zusammen, Winston!, fauche ich mir selbst zu. Du willst hier schließlich ein paar Ziegen beeindrucken – als verschüchtertes Schmusekätzchen wird das kaum gehen! Also: Haltung annehmen! Entschlossen straffe ich meinen Rücken und springe von Kiras Arm – direkt vor die Füße eines anderen Mädchens, das gleichzeitig mit uns ankommt.
»Morgen, Kira! Hast du etwa eine Katze mitgebracht?«
»Hallo, Emilia. Nein, das ist ein Hund.«
»Hä?« Das Mädchen guckt Kira völlig verständnislos an.
»Mann, Emilia: Das war ein Scherz. Natürlich ist das eine Katze! Sieht man doch. Genau genommen ist Winston ein sehr edler Rassekater.«
Das Mädchen schüttelt seinen blondgelockten Kopf.
»Kira, man darf keine Tiere mit in die Schule nehmen. In Russland geht das vielleicht, aber hier sicher nicht!«
»Was weißt du schon von Russland!«, erwidert Kira sehr knapp, nimmt mich wieder auf den Arm und stapft die Stufen zur Eingangstür hoch. He, warum auf einmal so schlecht gelaunt? Eben hat Kira sogar noch fröhlich gesummt, jetzt kann ich ihren Ärger förmlich riechen. Versteh ich nicht. Aber vielleicht gehört diese Emilia auch zu den Ziegen und Kira kriegt schon Pickel, wenn sie Emilia nur sieht.
In der Schule sind unglaublich viele Kinder. Gut, das habe ich mir natürlich so vorgestellt, aber diese Horden dann tatsächlich zu sehen, ist etwas völlig anderes. Es ist unglaublich wuselig und vor allem: laut! Einen Moment lang fürchte ich, mir könnten meine sensiblen Öhrchen abfallen. Vielleicht war mein Ausflug doch keine so gute Idee?
Bevor ich noch länger darüber nachdenken kann, ertönt ein schriller Klingelton. Was das wohl bedeutet? Ist das ein Warnsignal? Falls ja, wovor? Kira presst mich etwas enger an sich.
»Komm, Winston, der Unterricht fängt gleich an!«
Sie kniet sich hin und holt ein paar Bücher aus ihrer Umhängetasche. Dann nimmt sie mich hoch, setzt mich in die entstandene Lücke und schließt die Tasche vorsichtig über meinem Kopf. He! Ich sehe nichts mehr! Und vor allem: Man sieht mich nicht mehr! Wie soll ich denn so auch nur eine einzelne Ziege beeindrucken? Lautstark protestiere ich. Bellen kann ich zwar nicht, aber wenn ich anfange zu fauchen und zu jaulen, ist das auch nicht ohne. Kira öffnet die Tasche ein Stückchen und lugt hinein.
»Winston, du hast doch versprochen, dich zu benehmen! Also hör auf damit! Ich packe dich doch nur in meine Tasche, damit du nicht gleich rausfliegst. In der nächsten Pause hole ich dich wieder raus. Versprochen!«
Na gut. Sie wird es wissen. Schließlich verbringt sie jeden Tag hier. Ich höre auf zu jaulen und schließe die Augen. Offenbar ist Kira wieder aufgestanden und trägt mich eine Treppe hoch, jedenfalls schaukelt es nun ganz schön. So laut wie eben ist es auch nicht mehr – entweder die Kinder haben sich etwas beruhigt oder ich höre durch den Stoff der Tasche einfach nicht so gut.
Jetzt scheint Kira anzuhalten. Das Schaukeln hört auf und die Tasche wird auf dem Boden abgestellt. Ich glaube, dass Stühle gerückt werden. Dann klappt eine Tür.