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John  le Carré

 

Ein Mord erster Klasse

 

Deutsch von Hans Bütow

Titel der Originalausgabe: A MURDER OF QUALITY

 

 

Es gibt wahrscheinlich ein Dutzend großer Schulen, von denen man mit Überzeugung versichern wird, daß nur sie für Carne als Vorbild gedient hatten. Aber wer in ihnen nach den D'Arcys, Fieldings und Hechts Ausschau halt, wird vergeblich suchen.

JOHN LE CARRE

SCHWARZE KERZEN

Die Bedeutung von Carne School führt man allgemein auf Eduard VI. zurück, und dessen pädagogischer Eifer wird von der Geschichtsschreibung eigentlich dem Herzog von Somerset zugeschrieben. Aber Carne zieht das Ansehen des Monarchen der fragwürdigen Politik seines Beraters vor und gewinnt Kraft aus der Überzeugung, daß große Schulen, wie Tudor-Könige, im Himmel geweiht wurden.

Seine Größe ist tatsächlich fast so etwas wie ein Wunder. Von obskuren Mönchen gegründet, von einem kränklichen Kinder-König dotiert, von einem Viktorianischen Tyrannen der Vergessenheit entrissen, hatte Carne seinen Kragen zurechtgerückt, seine bäuerlichen Hände und Gesichtszüge geschrubbt und sich den Höfen des zwanzigsten Jahrhunderts im vollen Glanz präsentiert. Und im Handumdrehen wurde der Bauerntölpel aus Dorset der Liebling Londons: Dick Whittington war arriviert. Carne besaß Urkunden in lateinischer Sprache, Siegel in Wachs und Pfründe hinter der Abtei. Carne hatte Landbesitz, Kreuzgänge und den Holzwurm, einen Auspeitschblock und eine Zeile im Doomsday Book* [Reichsgrundbuch Englands (1085/86)] - was brauchte es also mehr, die Söhne der Reichen zu unterrichten?

Und sie kamen; jedes Semester kamen sie (denn Trimester sind nicht nobel), so daß die Züge einen ganzen Nachmittag lang traurige Gruppen von schwarzröckigen Jungen auf den Stationsbahnsteig entluden. Sie kamen in großen Autos, die von düsterer Sauberkeit glänzten. Sie kamen, um den armen König Eduard zu begraben, Handkarren durch die kopfsteingepflasterten Straßen zerrend, oder mit Proviantschachteln wie kleinen Särgen. Einige trugen Talare und sahen darin beim Gehen wie Krähen aus oder wie schwarze Engel, die zum Begräbnis gekommen sind. Manche folgten einzeln wie Statisten bei einer Beerdigung nach, und man konnte das Klippklapp ihrer Stiefel beim Gehen hören. In Carne waren sie immer in Trauer; die kleinen Jungen, weil sie bleiben, und die großen, weil sie abgehen mußten, die Lehrer, weil Trauer respektabel war, und die Ehefrauen, weil Respektabilität unterbezahlt war; und jetzt, da das Fastensemester (wie das Ostertrimester genannt wurde) zu Ende ging, hatte sich wie eh und je die Wolke der Düsternis entschlossen über die grauen Türme von Carne gesenkt.

Düsternis und die Kälte. Die Kälte war beißend und scharf wie Feuerstein. Sie schnitt in die Gesichter der Jungen, als sie sich nach dem Schulmatch langsam von den verlassenen Sportplätzen entfernten. Sie durchdrang ihre schwarzen Überzieher und verwandelte ihre steifen, spitzigen Kragen zu eisigen Halsreifen. Verfroren trotteten sie vom Platz zu der langen, ummauerten Straße, die zum größten Süßwarenladen der Stadt führte; die Reihe verringerte sich allmählich zu Gruppen, die Gruppen verringerten sich zu Paaren.

Zwei Jungen, die noch verfrorener aussahen als die übrigen, überquerten die Straße und gingen einen schmalen Pfad entlang, der zu einem entfernten, aber weniger überlaufenen Süßwarenladen führte.

»Ich sterbe, wenn ich noch einmal bei einem von diesen biestigen Rugbyspielen zusehen muß. Der Krach ist ja fantastisch!« sagte der eine. Er war groß, blond und hieß Caley.

»Die schreien nur deswegen, weil die Pauker vom Pavillon aus zusehen«, erwiderte der andere; »deswegen muß jedes Internat zusammenhalten. Damit die Hauspauker damit angeben können, wie laut ihre Internate schreien.«

»Was sagst du zu Rode?« fragte Caley. »Warum steht er bei uns und animiert uns zum Schreien? Er ist doch kein Hauspauker, nur 'n verdammter Hilfslehrer.«

»Der schmeißt sich doch die ganze Zeit bei den Hauspaukern ran. Du kannst ihn auf dem Hof sehen, wie er zwischen den Unterrichtsstunden um die hohen Tiere herumschwirrt. Alle jüngeren Lehrer tun das.« Caleys Gefährte war ein zynischer Rotschopf namens Perkins, Präfekt von Fieldings Haus.

»Ich bin bei Rode zum Tee gewesen«, sagte Caley.

»Rode ist die Hölle. Trägt braune Schuhe. Wie war denn der Tee?«

»Trüb. Komisch, wie Tee sie bloßstellt. Mrs. Rode ist aber ganz passabel - hausbacken, auf plebejische Art: Spitzendeckchen und Porzellanvögel. Ihr Essen ist gut; Frauenverein, aber gut.«

»Rode leitet nächstes Semester das Offiziersausbildungscorps. Das wird der Sache die Krone aufsetzen. Er ist so eifrig, springt ständig herum. Man merkt, daß er kein Gentleman ist. Du weißt doch, welche Schule er besucht hat?«

»Nein.«

»Branxome, öffentliche Schule. Fielding erzählte es meiner Mama, als sie im letzten Semester von Singapur rüberkam.«

»Mein Gott! Wo liegt denn Branxome?«

»An der Küste. Bei Bournemouth. Ich bin noch bei niemandem zum Tee gewesen, außer bei Fielding.« Perkins fügte nach einer kleinen Pause hinzu: »Man kriegt geröstete Kastanien und kleine Teekuchen. Man darf ihm nicht danken, weißt du. Er sagt, Gefühlsduselei ist nur für die unteren Klassen. Typisch für Fielding. Er benimmt sich gar nicht wie ein Pauker. Ich glaube, Jungen langweilen ihn. Das ganze Haus geht einmal im Semester zu ihm zum Tee, er lädt uns abwechselnd ein, jedesmal vier; mit den meisten Leuten spricht er nur bei diesem Anlaß.«

Schweigend gingen sie eine Weile weiter, bis Perkins sagte: »Fielding gibt heute abend wieder 'ne Dinnerparty.«

»Er gibt sehr an neuerdings«, sagte Caley mißbilligend. »Ich nehme an, der Fraß in seinem Haus ist schlimmer denn je?«

»Es ist sein letztes Semester, bevor er pensioniert wird. Gegen Ende des Semesters lädt er jeden Pauker und alle Frauen einzeln ein. Schwarze Kerzen jeden Abend. Aus Trauer. Die Hölle ist verschwenderisch.«

»Ja, ich nehme an, es ist eine Art Geste.«

»Mein alter Herr sagte, er ist verkehrt.«

Sie überquerten die Straße und verschwanden im Süßwarenladen, wo sie fortfuhren, die gewichtigen Angelegenheiten von Mr. Terence Fielding zu erörtern, bis Perkins widerstrebend ihr Zusammensein beendete. Da er in Naturwissenschaft eine Niete war, war er unglücklicherweise genötigt, auf diesem Gebiet Nachhilfeunterricht zu nehmen.

Die Dinnerparty, auf die Perkins an diesem Nachmittag angespielt hatte, näherte sich ihrem Ende. Mr. Terence Fielding, rangältester Internatsleiter von Carne, gönnte sich noch etwas Portwein und schob die Kristallflasche verdrießlich nach links. Es war sein Portwein, der beste, den er hatte. Es gab von diesem besten noch genug, um das Semester durchzuhalten - und was dann geschah, war ihm völlig egal. Er fühlte sich etwas müde, nachdem er beim Spiel zugesehen hatte, ein wenig betrunken und etwas gelangweilt von Shane Hecht und ihrem Mann. Shane war so häßlich. Massiv und besitzergreifend, wie eine verblühte Walküre. All das schwarze Haar. Er hätte jemand anderen einladen sollen. Die Snows zum Beispiel, aber er war zu klug. Oder Felix D'Arcy, aber D'Arcy fiel einem ins Wort. Na gut, etwas später würde er Charles Hecht ärgern; Hecht würde beleidigt sein und früh aufbrechen.

Hecht rückte nervös herum, wollte seine Pfeife anzünden, aber Fielding würde das unter keinen Umständen dulden. Hecht konnte eine Zigarre haben, wenn er rauchen wollte. Aber seine Pfeife hatte in seiner Smokingtasche zu bleiben, wohin sie gehörte oder nicht gehörte, und sein athletisches Profil konnte ohne diese Verzierung bleiben.

»Zigarre, Hecht?«

»Nein, danke, Fielding. Hättest du etwas dagegen, wenn ich...«