»Ach, mein Gott!«
»Wir haben der Presse zuerst nichts verlautbart. Die Eltern sind in Singapur. Der Vater ist Berufsoffizier, Fielding hat ihm ein Telegramm geschickt. Wir haben uns auch mit dem Kriegsministerium in Verbindung gesetzt.«
Sie schwiegen einen Augenblick, dann fragte Smiley: »Wie ist das passiert?«
»Wir haben die Straße gesperrt und versucht, den Unfall zu rekonstruieren. Ich habe jetzt einen Beamten drüben, nur zum Nachsehen. Das dumme ist, wir konnten bis zum Morgen nicht viel tun. Außerdem, die Männer sind überall herumgetrampelt; man kann's ihnen nicht übelnehmen. Es sieht so aus, als ob er nahe dem Ende des Gefälles hingefallen und mit seinem Kopf auf einem Stein aufgeschlagen wäre: die rechte Schläfe.«
»Wie hat Fielding es aufgenommen?«
»Er war sehr erschüttert. Sehr erschüttert, wirklich. Ehrlich gesagt, ich hätte es nicht geglaubt. Er schien einfach... zu resignieren. Es gab eine Menge zu tun - den Eltern zu telegrafieren, mit dem Onkel des Jungen in Windsor Verbindung aufzunehmen und so weiter. Aber er überließ das alles einfach Miss Truebody, seiner Haushälterin. Wenn sie nicht gewesen wäre, ich weiß nicht, wie wir fertig geworden wären. Ich war ungefähr eine halbe Stunde bei ihm, dann brach er einfach völlig zusammen und bat, allein gelassen zu werden.«
»Wie meinen Sie das: brach zusammen?« fragte Smiley rasch.
»Er weinte. Weinte wie ein Kind«, sagte Rigby gelassen. »Ich hätte's nie gedacht.«
Smiley bot Rigby eine Zigarette an und nahm selbst eine.
»Ich nehme an«, wagte er, »es war ein Unfall?«
»Das nehme ich an«, erwiderte Rigby hölzern.
»Vielleicht«, sagte Smiley, »teile ich Ihnen, ehe wir fortfahren, meine Neuigkeiten mit. Ich war unterwegs, um Sie aufzusuchen, als Sie anriefen. Ich habe gerade von Miss Brimley gehört.« Und auf seine präzise, ziemlich formelle Art berichtete er alles, was ihm Miss Brimley gesagt hatte und wie er auf den Inhalt des Paketes neugierig geworden war.
Smiley wartete, während Rigby mit London telefonierte. Fast mechanisch beschrieb Rigby alles, was er getan wissen wollte: das Paket und sein Inhalt waren zu beschlagnahmen und Vorkehrungen zu treffen, sie sofort einer gerichtsmedizinischen Untersuchung zu unterziehen; die Oberflächen waren nach Fingerabdrücken zu untersuchen. Er werde selbst mit einigen Proben der Handschrift eines Jungen und einer Examensarbeit nach London kommen; er werde das Gutachten eines Handschriftexperten einholen. Nein, er werde mit der Bahn, mit dem Zug 4 Uhr 25 ab Carne ankommen, der in Waterloo um 8 Uhr 05 eintrifft. Könne man ihn mit dem Wagen vom Bahnhof abholen lassen? Stille trat ein, und dann sagte Rigby verdrossen: »Schon gut, dann nehme ich mir so ein verfluchtes Taxi«, und legte ziemlich jäh auf. Er sah Smiley einen Moment ärgerlich an, grinste dann, zupfte sich am Ohr und sagte:
»Verzeihung, Sir, ich werde schon ein bißchen verdrossen.« Er deutete mit dem Kopf auf die entfernte Wand und fügte hinzu: »Kämpfe an zu vielen Fronten, nehme ich an. Ich werde den Chef über das Paket in Kenntnis setzen müssen, aber er ist im Augenblick auf der Jagd - nur Tauben, mit ein paar Freunden, er wird nicht lange weg sein -, aber ich habe Ihre Anwesenheit in Carne tatsächlich noch nicht erwähnt, und wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich...«
»Selbstverständlich«, unterbrach ihn Smiley schnell. »Ist ja viel einfacher, wenn Sie mich heraushalten.«
»Ich werde ihm sagen, daß es nur eine Routineerkundigung war. Wir werden Miss Brimley später erwähnen müssen... Aber es hat keinen Sinn, die Dinge noch schlimmer zu machen, wie?«
»Nein.«
»Ich muß Janie freilassen, glaube ich... Sie hatte doch recht, nicht wahr? Silberflügel im Mondschein.«
»Ich würde - nein, ich würde sie nicht freilassen, Rigby«, sagte Smiley mit ungewohnter Heftigkeit. »Behalten Sie sie so lange, wie Sie nur können, in Haft. Keine weiteren Unfälle, um Himmels willen! Wir haben genug davon gehabt.«
»Dann glauben Sie also nicht, daß Perkins' Tod ein Unfall war?«
»Lieber Himmel, nein«, rief Smiley plötzlich, »und Sie auch nicht, oder?«
»Ich habe einen Beamten darauf angesetzt«, erwiderte Rigby kühl. »Ich kann den Fall nicht selbst übernehmen. Ich werde beim Mordfall Rode benötigt. Der Chef wird jetzt Scotland Yard hinzuziehen müssen, und die Hölle wird los sein, kann ich Ihnen sagen. Er dachte, es sei alles so gut wie vorüber.«
»Und in der Zwischenzeit?«
»In der Zwischenzeit werde ich mein Bestes tun, um herauszufinden, wer Stella Rode ermordet hat.«
»Wenn man«, sagte Smiley langsam, »auf diesem Regenmantel Fingerabdrücke findet, was ich bezweifle, wird man irgendwelche... hier greifbar haben, um sie damit zu vergleichen?«
»Wir haben natürlich Rodes und Janies.«
»Aber nicht Fieldings?« Rigby zögerte.
»Tatsächlich haben wir welche«, sagte er endlich. »Aus lange zurückliegender Zeit. Das hat aber nichts mit dieser Art von Verbrechen zu tun.«
»Es war während des Krieges«, sagte Smiley. »Sein Bruder erzählte es mir. Oben im Norden. Es wurde vertuscht, nicht wahr?«
Rigby nickte. »Soviel ich gehört habe, wußten es nur die D'Arcys, und natürlich der Direktor. Es geschah in den Ferien - irgendein Junge aus der Air Force. Der Chef war sehr hilfsbereit...«
Smiley schüttelte Rigby die Hand und ging das vertraute mit Weichholz getäfelte Treppenhaus hinunter. Er bemerkte wieder den unbestimmten Institutsgeruch von Bohnerwachs und Karbolseife, ähnlich dem Geruch in Fieldings Haus.
Langsam ging er zum »Sawley Arms« zurück. An der Stelle jedoch, wo er sich nach links zu seinem Hotel hätte wenden müssen, zögerte er und schien sich anders zu entschließen. Dann überquerte er bedächtig, fast widerstrebend, die Straße zum Abteiplatz und ging um die Südecke herum auf Fieldings Haus zu. Er sah beunruhigt aus, fast erschrocken.
SINN FÜR MUSIK
Miss Truebody öffnete die Tür. Ihre Augenlider waren gerötet, als ob sie geweint hätte.
»Könnte ich vielleicht Mr. Fielding sprechen? Um mich zu verabschieden.«
Sie zögerte. »Mr. Fielding ist ganz außer sich. Ich bezweifle, daß er irgend jemanden empfangen möchte.«
Er folgte ihr durch die Halle und sah zu, wie sie zur Tür des Studierzimmers ging. Sie klopfte, neigte den Kopf, drückte dann sacht die Türklinke und trat ein. Es dauerte lange, bis sie zurückkam.
»Er wird gleich herauskommen«, sagte sie, ohne Smiley anzusehen.
»Wollen Sie Ihren Mantel ablegen?« Sie wartete, während er umständlich aus dem Mantel schlüpfte, nahm ihn dann und hängte ihn neben den Van-Gogh-Stuhl. Sie standen schweigend nebeneinander und blickten zur Tür des Arbeitszimmers.
Dann, ganz plötzlich, stand Fielding in der halboffenen Tür, unrasiert und in Hemdsärmeln. »Um Gottes willen«, sagte er heiser. »Was wollen Sie?«
»Ich wollte mich nur verabschieden, Fielding, und mein Beileid aussprechen.«
Fielding sah ihn einen Augenblick fest an; er lehnte sich schwer gegen die Türfüllung: »Also, adieu. Danke für Ihren Besuch.« Er fuchtelte mit einer Hand unbestimmt umher. »Sie hätten sich wirklich nicht zu bemühen brauchen«, setzte er unhöflich hinzu. »Sie hätten mir auch eine Karte schicken können, nicht?«
»Hätte ich tun können, ja; es schien nur so sehr tragisch, da er so nahe vor dem Erfolg war.«
»Was meinen Sie? Was, zum Teufel, meinen Sie?«
»Ich meine seine Arbeit... die Besserung. Simon Snow hat mir alles erzählt. Wirklich erstaunlich, die Art, wie ihn Rode weitergebracht hat.«
Ein langes Schweigen, dann sprach Fielding: »Adieu, Smiley. Danke für Ihren Besuch.« Er wandte sich zum Studierzimmer zurück, als Smiley rief:
»Aber bitte... bitte sehr. Ich nehme an, auch der arme Rode muß sich von diesen Prüfungsergebnissen aufgekratzt gefühlt haben. Ich meine, es war doch mehr oder weniger eine Sache von Leben und Tod für Perkins, diese Prüfung zu bestehen, nicht wahr? Er hätte doch seine Versetzung im nächsten Semester nicht bekommen, wenn er in Naturwissenschaft durchgefallen wäre. Sie hätten ihn vielleicht nicht zulassen können, nehme ich an, obwohl er Hauspräfekt war; dann hätte er nicht zur Aufnahmeprüfung in die Armee antreten dürfen. Armer Perkins, er hatte Rode eine Menge zu verdanken, nicht wahr? Und sicherlich auch Ihnen, Fielding. Sie müssen ihm wunderbar geholfen haben... Sie beide, Sie und Rode; Rode und Fielding. Seine Eltern sollten das wissen. Sie sind ziemlich in Geldnot, höre ich; der Vater ist Berufsoffizier, nicht wahr, in Singapur? Es muß eine große Anstrengung bedeutet haben, den Jungen in Carne zu halten. Es wird sie trösten, zu wissen wieviel für ihn getan wurde, nicht wahr, Fielding?« Smiley war sehr blaß. »Sie haben das Neueste wohl schon gehört?« fuhr er fort. »Über dieses elende Zigeunerweib, das Stella Rode getötet hat? Man hat entschieden, daß sie zurechnungsfähig ist. Ich nehme an, man wird sie hängen. Das wäre dann der dritte Tod, nicht wahr? Hören Sie, ich werde Ihnen etwas Seltsames erzählen - ganz unter uns-, Fielding. Ich glaube nicht, daß sie es getan hat. Glauben Sie's? Ich glaube einfach nicht, daß sie es getan hat.«