Er sah Fielding nicht an. Seine kleinen Hände hatte er fest hinter dem Rücken verschränkt; er stand mit hängenden Schultern da, den Kopf zur Seite geneigt, als lausche er auf eine Antwort.
Fielding schien Smileys Worte wie einen physischen Schmerz zu empfinden. Langsam schüttelte er den Kopf.
»Nein«, sagte er. »Carne tötete sie; es war Carne. Es konnte nur hier passieren. Es ist das Spiel, das wir spielen: das Ausschließungsspiel. Teile und herrsche!« Er sah Smiley voll ins Gesicht und schrie: »Nun gehen Sie, um Himmels willen! Sie haben bekommen, was Sie wollten, nicht? Nun können Sie mich auf Ihr kleines Brett heften, wie?« Und dann begann er, zu Smileys Qual, in langgezogenen unbeherrschten Schluchzern zu wimmern, die Hand auf der Stirn. Plötzlich erschien er grotesk, wie er den kindlichen Tränen mit seiner kreideweißen Hand Einhalt gebot, die plumpen Füße nach innen gedreht. Sachte lockte ihn Smiley ins Studierzimmer zurück, sachte setzte er ihn vor das erloschene Feuer. Dann begann er leise und mitfühlend mit ihm zu sprechen.
»Wenn es wahr ist, was ich denke, ist nicht mehr viel Zeit«, begann er. »Ich möchte, daß Sie mir von Tim Perkins erzählen - von dem Examen.«
Fielding nickte, das Gesicht in die Hände vergraben.
»Er wäre durchgefallen, nicht wahr? Er wäre durchgefallen und nicht versetzt worden; er hätte abgehen müssen.« Fielding schwieg. »Nach der Prüfung, an jenem Tag, gab ihm Rode die Aktenmappe, um sie hierherzubringen, die Mappe, die die Arbeiten enthielt; Rode hatte in dieser Woche Kirchendienst und kam vor dem Abendessen nicht nach Hause, aber er wollte die Arbeiten in jener Nacht korrigieren, nach seinem Essen mit Ihnen.«
Fielding nahm die Hände vom Gesicht und lehnte sich im Stuhl zurück, den großen Kopf nach hinten geneigt, die Augen geschlossen. Smiley fuhr fort:
»Perkins kam nach Hause und brachte an diesem Abend die Mappe zu Ihnen, wie Rode es ihm gesagt hatte, zur sicheren Aufbewahrung. Perkins war schließlich Ihr Hauspräfekt, ein verantwortungsbewußter Junge... Er übergab Ihnen die Mappe, und Sie fragten ihn, wie er bei der Prüfung abgeschnitten habe.«
»Er weinte«, sagte Fielding plötzlich. »Er weinte, wie nur ein Kind weinen kann.«
»Und nachdem er zusammengebrochen war, sagte er Ihnen, daß er gemogelt hatte? Daß er die Antworten nachgesehen und in seine Prüfungsarbeit übertragen hatte. Stimmt das? Und nach der Ermordung von Stella Rode erinnerte er sich, was er sonst noch in der Mappe gesehen hatte?«
Fielding stand auf. »Nein! Sehen Sie's denn nicht? Tim hätte nicht gemogelt, um sein Leben zu retten! Das ist ja der springende Punkt, die ganze verdammte Ironie dabei«, rief er. »Er hat überhaupt nicht gemogelt. Ich mogelte für ihn.«
»Aber das konnten Sie doch nicht! Sie konnten seine Handschrift nicht kopieren!«
»Er schrieb mit einem Kugelschreiber. Es waren nur Formeln und Diagramme. Als er fortgegangen war und mich mit der Aktenmappe allein gelassen hatte, sah ich mir seine Arbeit an. Sie war hoffnungslos - er hatte nur zwei von sieben Aufgaben gelöst. So mogelte ich für ihn. Ich schrieb sie einfach aus dem Lehrbuch ab und trug sie mit blauem Kugelschreiber ein, wie wir ihn alle benutzen. Abbotts verkaufen sie. Ich ahmte seine Schrift nach, so gut ich konnte. Ich brauchte nur etwa drei Zahlenreihen. Das übrige waren Diagramme.«
»Dann waren Sie es, der die Mappe öffnete? Der sah...«
»Ja,- ich war es, sage ich Ihnen, nicht Tim! Er konnte für sein Leben nicht mogeln! Aber Tim bezahlte dafür, sehen Sie's nicht? Als die Zensuren bekanntgegeben wurden, muß Tim gewußt haben, daß etwas mit ihnen nicht in Ordnung war. Schließlich hatte er nur zwei Aufgaben von sieben versucht, und jetzt hatte er einundsechzig Prozent bekommen. Aber sonst wußte er nichts, gar nichts!«
Lange Zeit sprach keiner von ihnen. Fielding blickte auf Smiley herab, frohlockend vor Erleichterung darüber, daß jemand sein Geheimnis teilte, und Smiley sah vage an ihm vorbei, das Gesicht in vollkommener Konzentration gestrafft.
»Und natürlich«, sagte er endlich, »wußten Sie, als Stella ermordet wurde, wer es getan hatte.«
»Ja«, antwortete Fielding, »ich wußte, daß Rode sie getötet hatte.«
Fielding goß sich einen Brandy ein und gab auch Smiley einen. Er schien seine Selbstbeherrschung wiedergewonnen zu haben, setzte sich und sah Smiley eine Weile nachdenklich an.
»Ich habe kein Geld«, sagte er endlich. »Keines. Niemand weiß das außer dem Direktor. Oh, sie wissen, daß ich mehr oder minder bankrott bin, aber sie wissen nicht, wie bankrott. Vor langer Zeit benahm ich mich wie ein Esel. Ich geriet in Schwierigkeiten. Es war im Krieg, als man keine Lehrer bekam. Ich hatte ein Internat für Jungen und leitete praktisch die Schule - D'Arcy und ich. Wir leiteten sie zusammen, und der Direktor leitete uns. Dann benahm ich mich wie ein Esel. Es war während der Ferien. Ich war damals oben im Norden und hielt eine Reihe von Vorträgen in einem Ausbildungsort der Royal Air Force. Und ich ließ mir was zuschulden kommen. Schlimm. Sie schnappten mich. Und herbei kam D'Arcy, mit seinem bäuerlichen Mantel angetan, und überbrachte die Bedingungen des Direktors: Kommen Sie zurück nach Carne, lieber Kollege, und wir werden nicht mehr darüber sprechen; leiten Sie weiter Ihr Haus, lieber Kollege, und leihen Sie uns weiter Ihre Weisheit. Es ist nicht an die Öffentlichkeit gedrungen. Wir wissen, es wird nie wieder geschehen, lieber Kollege, und wir sind sehr knapp an Lehrern. Kommen Sie als Aushilfslehrer zurück. So hab' ich's gemacht, bin seitdem immer einer gewesen und gehe jeden Dezember mit der Mütze in der Hand zum Liebling D'Arcy mit der Bitte, meinen Vertrag zu erneuern. Und natürlich - keine Pension. Ich werde an einem Einpaukinstitut unterrichten müssen. Es gibt einen Ort in Somerset, wo sie mich nehmen werden. Ich besuche den Direktor in London am Donnerstag. Es ist eine Art Abbruchshof für alte Professoren. Unser Direktor muß es gewußt haben; er gab mir eine Empfehlung.«
»Deswegen konnten Sie es niemandem sagen? Wegen Perkins?«
»In gewisser Weise, ja. Ich meine, die Polizei würde ja alles mögliche wissen wollen. Ich tat es für Tim, sehen Sie. Die Kuratoriumsmitglieder hätten das nicht besonders gemocht... ungebührliche Zuneigung... Es sieht schlimm aus, nicht wahr? Aber es war nicht jene Art von Zuneigung, Smiley, nicht mehr. Sie haben ihn nie Cello spielen hören. Er war nicht großartig, aber zuweilen spielte er so schön, mit einer Art gewählter Schlichtheit, die unbeschreiblich gut war. Er war ein linkischer Junge, und wenn er gut spielte, war es eine solche Überraschung. Sie hätten ihn spielen hören sollen.«