Zwei sehr große Spaniels beobachteten ihr Eintreten. Hinter den Spaniels, an einem enormen Schreibtisch, saß Brigadegeneral Havelock, O. B. E.* [Order of the British Empire] Polizeidirektor von Carne, wie eine Wasserratte auf einem Floß.
Die wenigen Strähnen weißen Haars, die seitwärts über seinen sonst kahlen Kopf liefen, waren sorgsam so angeordnet, daß sie eine möglichst große Fläche bedeckten. Das gab ihm ein merkwürdig nasses Aussehen, als sei er gerade aus dem Fluß aufgetaucht. Sein Schnurrbart, der üppig die Schütterkeit sonstigen Haarwuchses wettmachte, war gelb und schien recht kräftig zu sein. Er war ein sehr kleiner Mann, trug einen braunen Anzug und einen steifen weißen Kragen mit abgerundeten Ecken.
»Sir«, begann Rigby, »darf ich Ihnen Mr. Smiley aus London vorstellen?«
Er kam hinter seinem Schreibtisch hervor, als ergebe er sich, nicht überzeugt, doch resigniert. Dann schob er eine kleine knorrige Hand vor und sagte: »Aus London, äh? Guten Tag, Sir«, alles auf einmal, als habe er es auswendig gelernt.
»Mr. Smiley ist zu einem Privatbesuch hier, Sir«, fuhr Rigby fort. »Er kennt Mr. Fielding.«
»Ein komischer Kauz, dieser Fielding, ein komischer Kauz«, schnauzte der Polizeidirektor.
»Ja, tatsächlich, Sir«, sagte Rigby und fuhr fort: »Mr. Smiley hat Mr. Fielding gerade besucht, Sir, um sich von ihm vor seiner Rückkehr nach London zu verabschieden.«
Havelock warf einen blitzenden Blick auf Smiley, als überlege er, ob dieser imstande sei, die Reise zu unternehmen.
»Mr. Fielding hat eine Art Aussage gemacht, die er mit neuem, eigenem Beweismaterial unterbaute. Über den Mord, Sir.«
»Nun, Rigby?« sagte er herausfordernd.
Smiley griff ein: »Er sagte, der Ehemann habe es getan; Stanley Rode. Fielding sagte, als ihm sein Präfekt Rodes Aktenmappe mit den Prüfungsarbeiten brachte...«
»Was für Prüfungsarbeiten?«
»Rode führte an jenem Nachmittag die Aufsicht, Sie erinnern sich. Er hatte außerdem Kirchendienst, bevor er zum Dinner in Fieldings Haus ging. Aus Gründen der Zweckmäßigkeit gab er die Prüfungsarbeiten Perkins, der sie...«
»Der Junge, der den Unfall hatte?« fragte Havelock.
»Ja.«
»Sie wissen eine Menge darüber«, meinte Havelock dunkel.
»Fielding sagte, als Perkins ihm die Mappe überbrachte, habe er, Fielding, sie geöffnet. Er habe sehen wollen, wie Perkins bei der Prüfungsarbeit abgeschnitten hatte. Es war für die Zukunft des Jungen von Bedeutung, daß er seine Versetzung bekam«, fuhr Smiley fort.
»Oh, Arbeit ist heute das einzige«, sagte Havelock mit Bitterkeit. »War nicht so, als ich hier Schüler war, versichere ich Ihnen.«
»Als Fielding die Mappe öffnete, waren die Prüfungsarbeiten darin. Aber auch ein Kunststoffcape, ein altes Paar Lederhandschuhe und ein Paar Gummischuhe, die von Stiefeln abgeschnitten waren.«
Eine Pause.
»Großer Gott! Großer Gott! Haben Sie's gehört, Rigby? Das ist doch das, was sie in dem Paket in London gefunden haben. Großer Gott!«
»Schließlich war auch ein Stück Kabel, schweres Kabel, in der Mappe. Wegen dieser Mappe ging Rode, wie Sie sich erinnern, in der Mordnacht zurück«, schloß Smiley. Es war wie das Füttern eines Kindes - man durfte den Löffel nicht zu voll machen.
Eine sehr lange Stille trat ein. Dann sagte Rigby, der seinen Mann zu kennen schien:
»Das Motiv war Vorankommen im Beruf, Sir. Mrs. Rode zeigte kein Verlangen, ihre Stellung zu verbessern, zog sich schlampig an und beteiligte sich nicht am religiösen Leben der Schule.«
»Augenblick mal«, sagte Havelock. »Rode plante den Mord von Anfang an, richtig?«
»Ja, Sir.«
»Er wollte, daß es so aussähe wie Raub unter Gewaltanwendung?«
»Ja, Sir.«
»Nachdem er die Aktenmappe an sich genommen hatte, ging er nach North Fields zurück. Was tat er danach?«
»Er zieht das Kunststoffcape mit Kapuze, Überschuhe und Handschuhe an. Er bewaffnet sich mit dem Kabel, Sir. Er öffnet das Gartentor, geht zur Vordertür und klingelt, Sir. Seine Frau kommt zur Tür. Er schlägt sie nieder, schleppt sie in den Wintergarten und ermordet sie. Er reinigt die Kleidung unter dem Wasserhahn und tut sie in das Paket. Nachdem er das Paket verschlossen hat, geht er die Zufahrt hinunter, diesmal auf dem Pfad zur vorderen Gartentür, Sir, da er weiß, daß seine eigenen Fußspuren bald von denen anderer Leute verwischt werden. An der Straße angelangt, wo der Schnee hart war und keine Abdrücke zeigte, drehte er sich um, betrat wieder das Haus, spielte die Rolle des entsetzten Ehemanns und achtete darauf, als er die Leiche entdeckte, Sir, seine eigenen Fingerabdrücke über die der Handschuhspuren zu bringen. Es gab einen Gegenstand, der zum Verschicken zu gefährlich war, Sir, die Waffe.«
»Schon gut, Rigby. Verhaften Sie ihn. Mr. Borrow wird Ihnen einen Haftbefehl ausstellen, wenn Sie einen brauchen; sonst rufe ich Lord Sawley an.«
»Ja, Sir. Und ich werde Sergeant Low schicken, um von Mr. Fieldings Aussage ein vollständiges Protokoll aufzunehmen, Sir?«
»Warum, zum Teufel, hat er nicht früher ausgepackt, Rigby?«
»Das muß ich ihn fragen, Sir«, sagte Rigby ausdruckslos und verließ das Zimmer.
»Sind Sie Carnianer?« fragte Havelock und schob eine silberne Zigarettendose über den Tisch.
»Nein. Nein, leider«, antwortete Smiley.
»Woher kennen Sie dann Fielding?«
»Wir trafen uns nach dem Kriege in Oxford.«
»Merkwürdiger Kauz, Fielding, sehr merkwürdig. Sagen Sie, Ihr Name ist Smiley?«
»Ja.«
»Da gab es einen Kerl namens Smiley, der heiratete Ann Sercombe, Lord Sawleys Kusine. Verdammt hübsches Mädchen, diese Ann, und ging hin und heiratete diesen Burschen. Irgendein kleiner komischer Mensch im Staatsdienst mit 'nem Orden des Britischen Empire und 'ner goldenen Uhr. Sawley war verdammt verärgert.« Smiley sagte nichts. »Sawley hat einen Sohn in Carne. Wußten Sie das?«
»Ich habe es in der Zeitung gelesen, glaube ich.«
»Sagen Sie - dieser Rode. Kommt von einer öffentlichen Schule, oder nicht?«
»Ich nehme es an, ja.«
»Verdammt merkwürdige Sache. Experimente machen sich nie bezahlt, nicht wahr? Man kann mit der Tradition nicht experimentieren.«
»Nein. Nein, wahrhaftig nicht.«
»Das ist der Jammer heutzutage. Wie Afrika. Niemand scheint zu begreifen, daß man eine Gesellschaft nicht über Nacht aufbauen kann. Es braucht Jahrhunderte, einen Gentleman zu formen.« Havelock blickte stirnrunzelnd vor sich hin und fuhr mit dem Papiermesser auf seinem Tisch herum.
»Möchte wissen, wie er sein Kabel in diesen Graben bekommen hat, das Ding, mit dem er sie tötete. Wir haben ihn doch achtundvierzig Stunden nach dem Mord nicht aus den Augen gelassen.«
»Das ist es«, sagte Smiley, »was mir Rätsel aufgibt. Ebenso Jane Lyn.«
»Was meinen Sie?«
»Ich glaube nicht, daß Rode den Mut gehabt hätte, zum Haus zurückzugehen, nachdem er seine Frau getötet hatte, wenn er wußte, daß Jane Lyn ihn dabei beobachtet hatte. Unter der Annahme natürlich, daß er es wußte, was wahrscheinlich ist. Es ist zu kaltblütig... viel zu kaltblütig.«
»Seltsam, verdammt seltsam«, murmelte Havelock. Er sah auf seine Uhr, indem er den linken Ellbogen in einer raschen Reiterbewegung, die Smiley komisch und etwas traurig fand, nach außen schob. Die Minuten tickten vorbei. Smiley überlegte, ob er gehen solle, aber er hatte das unbestimmte Gefühl, daß Havelock seine Gesellschaft brauchte.
»Es wird ein höllisches Aufsehen geben«, sagte Havelock. »Nicht jeden Tag verhaftet man einen Lehrer von Carne wegen Mordes.« Er legte das Papiermesser heftig auf den Tisch. »Diese widerlichen Journalisten sollten ausgepeitscht werden!« erklärte er. »Sehen Sie mal das Zeug an, das sie über die Königsfamilie schreiben. Böse, böse!« Er stand auf, ging, durchs Zimmer und setzte sich in einen Ledersessel am Feuer. Einer der Spaniels kam und ließ sich zu seinen Füßen nieder. »Was, zum Teufel, hat ihn dazu veranlaßt? Seine eigene Frau, meine ich; ein Mensch wie er.« Havelock sagte dies schlicht, als bitte er um Aufklärung.