»Ich glaube nicht«, sagte Smiley langsam, »daß wir je ganz ergründen können, was irgend jemanden zu irgend etwas veranlaßt.«
»Mein Gott, Sie haben vollkommen recht... Womit verdienen Sie sich Ihren Lebensunterhalt, Smiley?«
»Nach dem Krieg war ich eine Zeitlang in Oxford. Unterricht und Forschung. Jetzt bin ich in London.«
»Einer von den klugen Burschen, äh?«
Smiley fragte sich, wann Rigby zurückkehren würde.
»Wissen Sie was über die Familie dieses Kerls? Hat er Verwandte?«
»Ich glaube, seine Eltern sind beide tot«, erwiderte Smiley, und das Telefon auf Havelocks Schreibtisch klingelte scharf. Es war Rigby. Stanley Rode war verschwunden.
NACH DEM FEST
Er nahm den Zug um ein Uhr dreißig nach London. Nach einer Auseinandersetzung über die Hotelrechnung erreichte er ihn gerade noch. Er ließ einen Zettel für Rigby zurück, auf dem er seine Londoner Adresse und Telefonnummer angab und ihn bat, ihn in dieser Nacht anzurufen, wenn die Laboratoriumsuntersuchungen abgeschlossen waren. Es gab in Carne sonst nichts mehr für ihn zu tun.
Als der Zug langsam aus Carne herausfuhr und die vertrauten Wahrzeichen eines nach dem anderen im kalten Februarnebel verschwanden, wurde Smiley von einem Gefühl der Erleichterung erfüllt. Er hatte nicht kommen wollen, das wußte er. Er hatte sich vor dem Ort gefürchtet, wo seine Frau ihre Kindheit verbracht, sich vor den Feldern gefürchtet, wo sie gelebt hatte. Doch er hatte nichts gefunden, nicht das leiseste Andenken, weder in den leblosen Umrissen von Schloß Sawley noch in der umgebenden Landschaft, nichts, was ihn an sie erinnert hätte. Nur der Klatsch blieb übrig, wie es nur zu selbstverständlich war, solange die Hechts und Havelocks weiterlebten, um mit ihrer Bekanntschaft mit der ersten Familie von Carne zu protzen.
Er nahm ein Taxi nach Chelsea, trug seinen Koffer nach oben und packte ihn mit der Sorgfalt eines Mannes aus, der allein zu leben gewohnt ist. Er dachte daran, ein Bad zu nehmen, entschied jedoch, zuerst Ailsa Brimley anzurufen. Das Telefon stand neben seinem Bett. Er setzte sich auf die Bettkante und wählte die Nummer. Eine blecherne Stimme sang »Unipress, guten Abend«, und er fragte nach Miss Brimley. Es gab ein langes Schweigen, und dann: »Ich bedaure, Miss Brimley ist in einer Konferenz. Kann jemand anderes Ihre Anfrage beantworten?«
Anfrage, dachte Smiley. Guter Gott! Warum in aller Welt Anfrage, warum nicht Frage oder Erkundigung?
»Nein«, sagte er. »Sagen Sie nur, Mr. Smiley habe angerufen.« Er legte den Hörer auf, ging ins Badezimmer und drehte den Heißwasserhahn auf. Er zerrte an seinen Manschettenknöpfen, als das Telefon klingelte. Es war Ailsa Brimley.
»George? Ich glaube, du solltest am besten gleich herüberkommen. Wir haben einen Besucher. Mr. Rode aus Carne. Er möchte mit uns sprechen.«
Er zog seine Jacke an, rannte auf die Straße und rief ein Taxi.
EINE LEGENDE WIRD ZERSTÖRT
Die von oben kommende Rolltreppe war gedrängt voll von Angestellten der Unipress. Sie waren mit müden Augen auf dem Heimweg. Der Anblick eines beleibten Herrn mittleren Alters, der die Treppe daneben hinaufstürmte, bereitete ihnen unerwartete Unterhaltung, so daß Smileys Aufstieg durch das Gespött von Bürojungen und das Gelächter von Stenotypistinnen beschleunigt wurde. Im ersten Stock hielt er an, um eine riesige Tafel zu studieren, auf der die Titel eines Viertels aller Tageszeitungen des Landes angeführt waren. Schließlich entdeckte er unter der Überschrift »Technik und Diverses« die »Christliche Stimme«, Zimmer 619. Der Lift schien sehr langsam nach oben zu gehen. Hinter seinem Plüsch strömte formlose Musik hervor, zu deren kräftigeren Takten ein Boy in einer Affenjacke mit den Hüften zuckte. Dann teilte sich die goldene Tür mit einem Seufzer, der Boy sagte »Sechster Stock«, und Smiley trat schnell in den Korridor. Kurz danach klopfte er an die Tür von Zimmer 619. Ailsa Brimley öffnete ihm.
»George, wie nett«, sagte sie fröhlich. »Mr. Rode wird sehr entzückt sein, dich zu sehen.« Und ohne weitere Einleitung führte sie ihn in ihr Büro. In einem Sessel nahe am Fenster saß Stanley Rode, Lehrer in Carne, in einem ordentlichen schwarzen Mantel. Als Smiley eintrat, stand er auf und streckte ihm die Hand entgegen.
»Nett, daß Sie gekommen sind, Sir«, sagte er steif. »Sehr nett.« Dieselbe farblose Art, dieselbe vorsichtige Stimme.
»Was kann ich für Sie tun?« fragte Smiley.
Sie setzten sich alle. Smiley bot Miss Brimley eine Zigarette an und gab ihr Feuer.
»Es ist wegen dieses Artikels, den Sie über Stella schreiben«, begann Rode. »Ich habe wirklich ein schlechtes Gefühl dabei, weil Sie so gut zu ihr und ihrem Andenken gewesen sind, wenn Sie wissen, was ich meine. Ich bin überzeugt, Sie meinen es gut, aber ich möchte nicht, daß Sie ihn schreiben.«
Smiley sagte nichts, und Ailsa war klug genug, sich still zu verhalten.
Von nun an war es Smileys Unterredung. Ihn störte das Schweigen nicht, aber Rode schien es zu bedrücken.
»Es wäre nicht richtig; es wäre ganz unpassend. Mr. Glaston stimmte zu; ich sprach gestern vor seiner Abreise mit ihm, und er stimmte zu. Ich könnte Sie einfach das Zeug nicht schreiben lassen.«
»Warum nicht?«
»Zu viele Leute wissen Bescheid. Der arme Mr. Cardew, ich habe ihn gefragt. Er weiß eine Menge, und auch eine Menge über Stella, daher fragte ich ihn. Er versteht auch, warum ich das Bethaus aufgegeben habe; ich konnte nicht mehr zusehen, wie sie jeden Sonntag hinging und auf die Knie sank.« Er schüttelte den Kopf. »Es war alles falsch. Es machte den Glauben lächerlich.«
»Was sagte Cardew dazu?«
»Er sagte, wir sollten uns nicht zu Richtern aufwerfen. Wir sollten Gott richten lassen. Aber ich erwiderte, es wäre nicht richtig, da die Leute sie kannten und wußten, was sie getan hatte, und dann all das Zeug in der >Stimme< lesen würden. Sie würden es für verrückt halten. Er schien das nicht einzusehen, er sagte nur, man solle es Gott überlassen. Aber ich kann es nicht, Mr. Smiley.«
Wieder sprach eine Weile niemand. Rode saß ganz still, wiegte nur leise den Kopf. Dann fing er wieder zu sprechen an:
»Zuerst glaubte ich dem alten Mr. Glaston nicht. Er sagte, sie sei schlecht, aber ich glaubte es nicht. Sie lebten damals oben auf dem Hügel, Gorse Hill, nur einen Schritt vom Bethaus; Stella und ihr Vater. Sie schienen ihr Personal nie lange zu behalten, daher machte sie die meiste Arbeit selbst. Ich besuchte sie manchmal an Sonntagvormittagen nach der Kirche. Stella versorgte ihren Vater, kochte für ihn und richtete alles, und ich fragte mich immer, wie ich jemals den Mut aufbringen würde, bei Mr. Glaston um ihre Hand anzuhalten. Die Glastons waren wichtige Leute in Branxome. Ich unterrichtete damals an einer öffentlichen Schule. Sie ließen mich mit verkürzter Arbeitszeit unterrichten, während ich mich auf mein Examen vorbereitete, und ich hatte mich entschlossen, Stella zu bitten, mich zu heiraten, wenn ich die Prüfung bestanden hatte.
Am Sonntag, nachdem die Ergebnisse bekanntgegeben worden waren, ging ich nach dem Morgengottesdienst zum Haus hinüber. Mr. Glaston öffnete selbst die Tür. Er brachte mich sofort in sein Studierzimmer. Vom Fenster konnte man die Hälfte der Töpfereifabriken von Poole sehen und die See dahinter. Er ließ mich Platz nehmen und sagte: >Ich weiß, warum Sie hier sind, Stanley. Sie wollen Stella heiraten. Aber Sie kennen sie nicht<, sagte er, >Sie kennen sie nicht<. >Ich komme seit zwei Jahren zu Besuch, Mr. Glaston<, erwiderte ich, >und ich glaube, ich weiß, was ich will.<