»Nebenbei, was für Blutgruppe hatte sie?«
»Gruppe A.«
Smiley setzte sich auf die Bettkante. Den Hörer ans Ohr pressend, begann er leise zu sprechen. Zehn Minuten später ging er langsam nach unten. Er war ans Ende der Jagd gelangt und schon angewidert vom Kesseltreiben.
Es dauerte fast eine Stunde, bis Rigby eintraf.
DER AUSWURF DES FLUSSES
Die Albert Bridge war so grotesk wie je; knochiger Stahl, der sich vor dem geduldigen Londoner Himmel zu wagnerianischen Zinnen erhob; die Themse, die resigniert darunter dahinkroch, ihren Schmutz gegen die Werften von Battersea drängte und dann dem Nebel stromabwärts entgegenglitt.
Der Nebel war dicht. Smiley beobachtete, wie das Treibholz an ihm anstieß, sich zuerst in weißen Staub verwandelte, dann sich zu heben, sich aufzulösen und zu verschwinden schien.
So würde es enden, an einem abscheulichen Morgen wie diesem, wenn sie den winselnden Mörder aus seiner Zelle zerrten und den Hanfstrick um seinen Nacken legten. Würde Smiley in zwei Monaten den Mut haben, sich an dies zu erinnern, wenn draußen vor dem Fenster der Morgen anbrach und die Turmuhr laut die Stunde schlug? Wenn sie einem Mann auf dem Blutgerüst den Hals brachen und ihn beseitigten wie den Auswurf des Flusses?
Er nahm seinen Weg die Beaumont Street entlang zur King's Road. Der Milchmann surrte mit seinem elektrisch betriebenen Lieferwagen an ihm vorbei. Er würde an diesem Morgen auswärts frühstücken, dann ein Taxi zur Curzon Street nehmen und Wein zum Dinner bestellen. Er würde etwas Gutes aussuchen. Fielding würde das zu schätzen wissen.
Fielding schloß die Augen und trank, die linke Hand locker über die Brust haltend.
»Göttlich«, sagte er, »göttlich!«
Ailsa Brimley, ihm gegenüber, lächelte sanft. »Wie werden Sie Ihren Ruhestand verbringen, Mr. Fielding?« fragte sie. »Frankenwein trinkend?«
Sein Glas immer noch an den Lippen, sah er in die Kerzen. Das Silber war gut, besser als sein eigenes. Er überlegte, warum sie nur zu dritt bei Tisch waren. »In Frieden«, antwortete er endlich. »Ich habe kürzlich eine Entdeckung gemacht.«
»Was wäre das?«
»Daß ich vor einem leeren Haus gespielt habe. Aber jetzt tröstet mich der Gedanke, daß sich niemand daran erinnert, wie ich meine Worte vergaß oder einen Auftritt verpaßte. So viele von uns warten geduldig auf eine Zuschauerschaft, um zu sterben. In Carne wird sich niemand länger als ein oder zwei Semester daran erinnern, wie ich mein Leben verpfuscht habe. Ich war bis vor kurzem zu eitel, um das zu erkennen.« Er setzte das Glas vor sich hin und lächelte Ailsa Brimley plötzlich an. »Das ist der Frieden, den ich meine. In niemandes Gedanken zu existieren, außer in meinen eigenen; ein weltlicher Mönch zu sein, in Sicherheit und vergessen.«
Smiley schenkte ihm Wein nach. »Miss Brimley hat Ihren Bruder im Krieg gut gekannt. Wir waren alle in derselben Abteilung«, sagte er. »Sie war eine Weile Adrians Sekretärin. Nicht wahr, Brim?«
»Es ist eigentlich deprimierend, wie die Schlechten weiterleben«, erklärte Fielding. »Ziemlich verwirrend. Für die Schlechten, meine ich.« Er stieß einen kleinen feinschmeckerischen Seufzer aus. »Der Augenblick der Wahrheit in einem guten Mahl! Übergangsperiode« - er verwendete das deutsche Wort -»zwischen entremet und Dessert«, und sie lachten alle Und waren dann still.
Smiley stellte sein Glas hin und sagte: »Die Geschichte, die Sie mir am Donnerstag erzählten, als ich Sie besuchte...«
»Nun?« Fielding war gereizt.
»Über das Mogeln für Tim Perkins... wie Sie die Arbeit aus der Aktentasche nahmen und sie abänderten. ..«
»Ja?«
»Sie ist nicht wahr.« Es klang, als spräche er über das Wetter. »Man hat sie überprüft, und sie ist nicht wahr. Die Schrift stammt zur Gänze von einer Person - dem Jungen. Wenn einer gemogelt hat, dann muß es der Junge gewesen sein.«
Ein langes Schweigen trat ein. Fielding zuckte die Achseln. »Lieber Herr, Sie können doch von mir nicht erwarten, daß ich das glaube. Diese Leute sind ja wirklich schwachsinnig.«
»Natürlich bedeutet das an sich noch nichts. Ich meine, Sie könnten den Jungen ja schützen wollen, nicht? Indem Sie für ihn lügen, für seine Ehre sozusagen. Ist dies die Erklärung?«
»Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt«, erwiderte er kurz. »Machen Sie daraus, was Sie wollen.«
»Ich glaube, ich kann mir eine Situation vorstellen, wo es ein geheimes betrügerisches Einverständnis gegeben haben mag, wo Sie von der Not des Jungen gerührt wurden, als er Ihnen die Arbeiten brachte; und wo Sie in einer Eingebung des Augenblicks die Mappe öffneten, seine Arbeit herausnahmen und ihm sagten, was er schreiben solle.«
»Hören Sie einmal«, sagte Fielding hitzig, »warum lassen Sie Ihre Finger nicht davon? Was haben Sie damit zu tun?«
Smiley erwiderte mit plötzlicher Leidenschaft: »Ich versuche zu helfen, Fielding. Ich bitte Sie, mir zu glauben, daß ich zu helfen versuche. Um Adrians willen. Ich möchte nicht, daß es... mehr Leid als nötig gibt, mehr Schmerz. Ich möchte es in Ordnung bringen, bevor Rigby kommt. Man hat die Anklage gegen Tanie fallenlassen. Sie wissen das, nicht? Man scheint zu denken, daß es Rode ist, aber man hat ihn nicht verhaftet. Man hätte es tun können, hat es aber nicht getan. Man hat nur noch mehr Aussagen von ihm protokolliert. Daher ist das mit der Aktenmappe schrecklich wichtig, sehen Sie. Alles hängt davon ab, ob Sie wirklich hineingesehen haben und ob Perkins hineingeblickt hat. Verstehen Sie das denn nicht? Wenn es Perkins gewesen ist, der schließlich doch gemogelt hat, wenn nur der Junge die Mappe geöffnet hat und nicht Sie, dann wird man die Antwort auf eine sehr wichtige Frage haben wollen: man wird wissen wollen, wieso Sie wußten, was darin war.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Die Polizei ist wirklich nicht schwachsinnig, wissen Sie. Lassen Sie uns mal einen Augenblick am anderen Ende beginnen. Angenommen, Sie waren es, der Stella Rode tötete, angenommen, Sie hatten einen Grund, einen außerordentlich triftigen Grund, und die Polizei wußte, was dieser Grund sein konnte; angenommen, Sie eilten Rode voraus, nachdem Sie ihm die Mappe in jener Nacht übergeben hatten - mit dem Fahrrad zum Beispiel; wie Jane es sagte, >auf dem Wind reitend<. Wenn das wirklich so war, so wäre keines von den Dingen, die Sie sahen, überhaupt in der Mappe gewesen. Sie hätten es fingieren können. Und als später die Prüfungsergebnisse herauskamen und Sie erkannten, daß Perkins gemogelt hatte, dann schlossen Sie, daß er in die Mappe gesehen hatte.
Gesehen hatte, daß sie nichts enthielt, nichts als Prüfungsarbeiten. Ich glaube, das würde erklären, warum Sie den Jungen töten mußten.« Er hielt inne und blickte zu Fielding. »Und in gewisser Weise«, fügte er fast widerstrebend hinzu, »klingt das vernünftiger, nicht wahr?«
»Und was, darf ich fragen, war der Grund, von dem Sie sprechen?«
»Vielleicht erpreßte sie Sie. Sie wußte bestimmt von Ihrer Verurteilung im Krieg, aus der Zeit, als sie im Norden war. Ihr Vater war Friedensrichter, nicht? Ich höre, daß man die Akten durchgesehen hat. Die Polizei, meine ich. Es war ihr Vater, der den Fall verhandelte. Sie wußte, daß Sie bankrott sind, eine neue Stelle brauchen, und sie hielt Sie an einem Haken. D'Arcy wußte es anscheinend auch. Sie erzählte es ihm. Sie hatte nichts zu verlieren; er war von Anfang an in der Geschichte drin, er würde nie erlauben, daß die Zeitungen davon erfuhren; sie wußte das, sie wußte, woran sie mit ihm war. Haben auch Sie es D'Arcy erzählt, Fielding? Ich glaube, Sie haben es vielleicht getan. Als sie zu Ihnen kam und sagte, sie wisse es, als sie Sie verspottete und verlachte, gingen Sie zu D'Arcy und erzählten es ihm. Sie fragten ihn, was Sie tun sollten. Und er sagte - was würde er wohl sagen?-, vielleicht sagte er: Finde heraus, was sie will. Aber sie wollte nichts; kein Geld zumindest, sondern etwas, das ihrem verkorksten kleinen Geist besser zusagte: sie wollte Sie beherrschen und besitzen. Sie liebte das Konspirieren, sie befahl Sie zu Zusammenkünften, zu absurden Zeiten, an absurden Orten; in Gehölzen, in leerstehenden Kirchen und vor allem bei Nacht. Und sie wollte nichts von Ihnen als Ihren Willen, sie ließ Sie ihre Prahlereien und verrückten Intrigen anhören, machte, daß Sie krochen und sich duckten, und ließ Sie dann laufen, bis zum nächsten Mal.« Er sah wieder auf. »In dieser Richtung denkt man vielleicht, sehen Sie. Deswegen ist es nötig, daß wir wissen, wer in die Mappe hineinsah. Und wer in der Prüfung schwindelte.«