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Miss Brimley machte ihre Zigarette aus, räumte geistesabwesend Zwecken und Büroklammern, Schere und Leim in die rechte obere Schublade ihres Schreibtisches und raffte die Nachmittagspost aus ihrem Eingangskörbchen zusammen, die sie, weil Donnerstag war, unberührt gelassen hatte. Darunter waren einige an Barbara Fellowship adressierte Briefe, unter welchem Namen die »Stimme« seit ihrer Gründung sowohl privat wie in ihren veröffentlichten Spalten die vielen Zuschriften ihrer Leser beantwortet hatte. Sie konnten bis morgen warten. Sie hatte Freude an der »Problem-Post«, aber diese wurde am Freitagvormittag gelesen. Sie öffnete den kleinen Ablageschrank, der knapp neben ihr stand, und ließ die Briefe in einen kleinen Ablagekasten vorn im Schrank fallen. Dabei drehte einer sich um, und sie bemerkte überrascht, daß die gesiegelte Klappe mit einem eleganten blauen Delphin geprägt war. Sie nahm den Umschlag aus dem Schrank und besah ihn neugierig, ihn mehrfach umwendend. Er war aus hellgrauem Papier, ganz schwach liniert. Teuer - vielleicht handgeschöpft. Unter dem Delphin befand sich ein winziges Schriftband, auf dem sie die Inschrift gerade noch erkennen konnte: Regem defendere diem videre. Der Poststempel war Carne, Dorset. Das mußte das Schulwappen sein. Aber warum war ihr Carne vertraut? Miss Brimley war stolz auf ihr Gedächtnis, das ausgezeichnet war, und es ärgerte sie, wenn es sie im Stich ließ. Als letzten Ausweg öffnete sie den Umschlag mit ihrem Papiermesser aus vergilbtem Elfenbein und las den Brief.

Sehr geehrte Miss Fellowship, ich weiß nicht, ob Sie wirklich existieren, aber das spielt keine Rolle, weil Sie immer so liebe, gütige Antworten geben. Ich habe letzten Juni über die Kuchenmischung geschrieben. Ich bin nicht verrückt, und ich weiß, daß mein Mann versucht, mich zu töten. Könnte ich wohl bitte kommen und Sie, sobald es Ihnen paßt, besuchen? Ich bin sicher, Sie werden mir glauben und erkennen, daß ich normal bin. Könnte es wohl bitte so bald wie möglich sein, ich fürchte mich so sehr vor den langen Nächten. Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll. Ich könnte es mit Mr. Cardew im Bethaus versuchen, aber er würde mir nicht glauben, und Vater ist zu praktisch eingestellt. Ebensogut könnte ich tot sein. Irgend etwas an ihm ist nicht ganz in Ordnung. Manchmal bei Nacht, wenn er glaubt, ich schlafe, liegt er jetzt da und starrt in die Dunkelheit. Ich weiß, es ist falsch, solche häßlichen Dinge zu denken und Angst im Herzen zu haben, aber ich kann es nicht ändern.

Ich hoffe, Sie bekommen nicht viele Briefe wie diesen.

Hochachtungsvoll Stella Rode (Mrs.) geborene Glaston

Einen Augenblick saß sie ganz still an ihrem Schreibtisch und betrachtete die Adresse in hübscher blauer Gravur am Kopf der Seite: »North Fields, Carne School, Dorset.« In diesem Moment des Schocks und des Staunens drängt sich ein Satz in ihr Gedächtnis: »Der Wert einer Nachricht hängt von ihrer Herkunft ab.« Das war John Landsburys Lieblingswort. Ehe man nicht die Abstammung einer Information kennt, kann man einen Bericht nicht auswerten. Ja, das pflegte er zu sagen. »Wir sind nicht demokratisch. Wir verschließen die Tür vor Nachrichtenmaterial ohne gute Abkunft.« Und sie pflegte zu antworten: »Ja, John, aber selbst die besten Familien mußten irgendwo anfangen.«

Stella Rode kam jedoch aus einer guten Familie. Miss Brimley erinnerte sich jetzt an alles. Stella war das Glaston-Mädchen. Das Mädchen, über dessen Heirat im Leitartikel berichtet worden war, das Mädchen, welches das Sommerpreisausschreiben gewonnen hatte; Samuel Glastons Tochter aus Branxome. Über die gab es eine Karte in Miss Brimleys Kartothek.

Abrupt stand sie auf, den Brief noch immer in der Hand, und ging zum vorhanglosen Fenster. Unmittelbar vor ihr war ein moderner Blumenkasten aus geflochtenem Weißeisendraht. Merkwürdig, überlegte sie, daß sie es nie fertigbrachte, in diesem Blumenkasten etwas zum Wachsen zu bringen. Sie blickte zur Straße hinab, eine schmale, vernünftige Gestalt, die sich ein wenig nach vorn beugte, eingerahmt von dem leuchtenden Nebel draußen; Nebel, gelb gefärbt von dem Licht, das er Londons Straßen stahl. Tief unten konnte sie gerade noch die Straßenlampen unterscheiden, die fahl und trüb wirkten. Plötzlich empfand sie das Bedürfnis nach frischer Luft und öffnete mit einem ihrer sonstigen Ruhe völlig widersprechenden Impuls weit das Fenster. Augenblicklich brachen Kälte und eine Welle tosenden Lärms über sie herein, und der heimtückische Nebel folgte. Das Geräusch des Verkehrs war stetig, so daß sie einen Augenblick glaubte, es komme vom Lauf einer großen Maschine. Dann hörte sie über dem gleichmäßigen Dröhnen die Zeitungsjungen. Ihre Schreie waren wie die von Möwen gegen einen aufkommenden Sturm. Sie konnte sie jetzt sehen, Wachtposten unter den hastenden Schatten.

Es konnte wahr sein. Das war immer die Schwierigkeit gewesen. Den ganzen Krieg hindurch war es die gleiche rastlose Suche gewesen. Es konnte wahr sein. Es war zwecklos, Berichte auf ihre Wahrscheinlichkeit zu untersuchen, wenn man gar nichts wußte, von dem man ausgehen konnte. Sie erinnerte sich an die ersten Agentenberichte aus Frankreich über die V-Waffen, wildes Gerede über Betonabschußbasen in den Tiefen eines Waldes. Man mußte dem Dramatischen widerstehen, sich dagegen behaupten. Doch, es konnte wahr sein. Morgen, am Tage danach, würden die Zeitungsjungen da unten es vielleicht ausrufen, und Stella Rode, geborene Glaston, konnte tot sein. Und wenn das so war, wenn die geringste Chance bestand, daß dieser Mann plante, diese Frau zu töten, dann mußte sie, Ailsa Brimley, alles tun, was in ihren Kräften stand, um es zu verhindern. Wenn irgend jemand Anspruch auf ihre Unterstützung hatte, so war es Stella Rode: Sowohl ihr Vater wie ihr Großvater hatten die »Stimme« abonniert, und als Stella vor fünf Jahren heiratete, hatte Miss Brimley darüber einige Zeilen im Leitartikel gebracht. Die Glastons schickten ihr jedes Jahr eine Weihnachtsglückwunschkarte. Sie gehörten zu den ersten Abonnentenfamilien...

Es war kalt am Fenster, aber sie blieb, wo sie war, immer noch fasziniert von den halbverborgenen Schatten, die sich unter ihr begegneten und trennten, und den nutzlosen Straßenlampen, die mühsam zwischen ihnen brannten. Sie begann, sich ihn als einen der Schatten vorzustellen, drohend und drängend, seine Mörderaugen in dunkle Höhlen verwandelt. Und plötzlich hatte sie Angst und brauchte Hilfe.

Aber nicht die Polizei, noch nicht. Wenn Stella Rode das gewollt hätte, wäre sie selbst hingegangen. Warum war sie nicht zur Polizei gegangen? Aus Liebe? Aus Furcht, töricht zu erscheinen? Weil Instinkt kein Beweis war? Man wollte Fakten. Aber das Faktum des Mordes war der Tod. Mußten sie darauf warten?

Wer würde helfen? Sie dachte sogleich an Landsbury. Aber der war Farmer in Rhodesien. Wer war im Krieg sonst noch bei ihnen gewesen? Fielding und Jebedee waren tot, Steed-Asprey verschollen. Smiley - wo war er? George Smiley, der Klügste und vielleicht der Seltsamste von ihnen allen. Natürlich, erinnerte sich Miss Brimley jetzt. Er war diese unwahrscheinliche Heirat eingegangen und zur Forschungsarbeit nach Oxford zurückgekehrt. Aber dort war er nicht geblieben... Die Ehe war auseinandergegangen ... Was hatte er nur danach gemacht?