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Sie kehrte an ihren Schreibtisch zurück und nahm den Band S-Z des Telefonbuchs. Zehn Minuten später saß sie in einem Taxi, unterwegs zum Sloane Square. In ihrer hübsch behandschuhten Hand hielt sie einen Aktendeckel mit Stella Rodes Karteiblatt und den Briefen, die zur Zeit des Sommer-Preisausschreibens zwischen ihnen gewechselt worden waren. Sie war schon fast in Piccadilly, als ihr einfiel, daß sie das Bürofenster offengelassen hatte. Es machte wohl nichts aus.

»Bei anderen Leuten sind's Perserkatzen oder Golf. Bei mir sind's die >Stimme< und meine Leser. Ich bin eine lächerliche alte Jungfer, das weiß ich, aber so ist es nun einmal. Ich will nicht zur Polizei gehen, ehe ich nicht etwas versucht habe, George.«

»Und du dachtest, du könntest es mit mir versuchen?«

»Ja.«

Sie saß im Arbeitszimmer von George Smileys Haus in der Bywater Street; das einzige Licht kam von der komplizierten Lampe auf seinem Schreibtisch, einem schwarzen, spinnenartigen Ding, das hell die Notizen auf der Tischplatte beleuchtete.

»Du hast also den Dienst quittiert?« fragte sie.

»Ja, ja, das habe ich.« Er nickte energisch mit dem runden Kopf, als wollte er sich selbst beteuern, daß ein widerwärtiges Erlebnis wirklich vorbei war, und mischte Miss Brimley einen Whisky und Soda. »Ich war dort noch einmal beschäftigt, nach... Oxford. In Friedenszeiten ist alles ganz anders, weißt du«, fuhr er fort.

Miss Brimley nickte. »Ich kann's mir vorstellen. Mehr Zeit, widerlich zu sein.«

Smiley sagte nichts, zündete nur eine Zigarette an und setzte sich ihr gegenüber.

»Und die Leute haben gewechselt. Fielding, Steed, Jebedee. Alle fort.« Sie sagte dies auf nüchterne Art, während sie aus ihrer großen praktischen Handtasche Stella Rodes Brief herausnahm. »Dies ist der Brief, George.«

Nachdem er ihn gelesen hatte, hielt er ihn kurz gegen die Lampe; sein rundes Gesicht wurde von dem Licht in einem Augenblick fast komischen Ernstes erfaßt. Während sie ihn beobachtete, fragte sich Miss Brimley, was für einen Eindruck er wohl auf Leute machte, die ihn nicht sehr gut kannten. Sie hatte ihn als den vergeßlichsten Menschen in Erinnerung, der ihr je begegnet war; kurz und plump, mit dicker Brille und sich lichtendem Haar, war er auf den ersten Blick der Prototyp eines erfolglosen Junggesellen mittleren Alters mit einer sitzenden Beschäftigung. Seine angeborene Schüchternheit in den meisten praktischen Angelegenheiten spiegelte sich in seiner Kleidung wider, die teuer und unzweckmäßig war, denn er war Wachs in den Händen seines Schneiders, der ihn ausraubte.

Er hatte den Brief auf den kleinen Intarsientisch neben sich gelegt und sah sie mit einem eulenhaften Blick an.

»Der andere Brief, den sie dir schickte, Brim. Wo ist er?«

Sie reichte ihm den Aktendeckel. Er öffnete ihn und las nach einem Augenblick Stella Rodes früheren Brief laut vor:

Sehr geehrte Miss Fellowship, ich möchte mir erlauben, für Ihr »Küchenwinke«-Preisausschreiben folgenden Vorschlag zu machen: Man bereite die Kuchenmischungs-Grundmasse einmal im Monat zu. Sahne, gleiche Mengen Fett und Zucker; man füge für je 170 Gramm der Mischung ein Ei hinzu. Für Puddings und Kuchen füge man die entsprechende Menge Mehl zur Grundmischung hinzu. Dies wird sich einen Monat gut halten.

Ich lege einen Freiumschlag bei.

Hochachtungsvoll Stella Rode (geb. Glaston)

P. S. Bei dieser Gelegenheit: Man kann Drahtwolle vor Rost schützen, indem man sie in einer Schale mit Seifenwasser aufbewahrt. Sind uns zwei Vorschläge erlaubt? Wenn ja, darf dies, bitte, mein zweiter sein?

»Sie gewann das Preisausschreiben«, bemerkte Miss Brimley, »aber darum geht es nicht. Was ich dir sagen will, George, ist dies: sie ist eine Glaston, und die Glastons haben die >Stimme< seit ihrer Gründung gelesen. Stellas Großvater war der alte Rufus Glaston, ein Töpferei-König in Lancashire; er und John Landsburys Vater bauten Kapellen und Bethäuser in praktisch jedem Dorf der Midlands. Als Rufus starb, brachte die >Stimme< eine Gedenknummer heraus, und der alte Landsbury selbst schrieb den Nachruf. Samuel Glaston übernahm die Firma des Vaters, mußte aber nach Süden ziehen, wegen seiner Gesundheit. Er wohnt jetzt bei Bournemouth, ein Witwer mit einer Tochter, Stella. Sie ist die letzte dieser großen Familie. Die ganze Sippschaft ist so nüchtern, wie man's nur wünschen kann, Stella eingeschlossen, möchte ich meinen. Ich glaube nicht, daß irgendeiner von ihnen unter Verfolgungswahn leiden könnte.« Smiley sah sie erstaunt an.

»Meine liebe Brim, ich kann das nicht auf einmal fassen. Woher, um Himmels willen, weißt du das alles?«

Miss Brimley lächelte entschuldigend.

»Bei den Glastons ist das leicht - sie sind fast ein Teil der Zeitschrift. Sie schicken uns Weihnachtsglückwünsche und Bonbonnieren am Jahrestag unserer Gründung. Wir haben etwa fünfhundert Familien, die das bilden, was ich unsere Stammkundschaft nenne. Sie bezogen die >Stimme< von Anbeginn und sind immer dabeigewesen. Sie schreiben uns, George: wenn sie Sorgen haben, schreiben sie und sprechen sich aus; wenn sie heiraten, umziehen, sich pensionieren lassen, wenn sie krank sind, deprimiert oder zornig, dann schreiben sie. Nicht oft, weiß der Himmel; aber oft genug.«

»Wie behältst du das nur alles?«

»Ich behalte es nicht. Ich habe eine Kartothek. Ich beantworte Briefe immer, weißt du... nur...«

»Ja?«

Miss Brimley sah ihn ernst an. »Dies ist das erste Mal, daß jemand geschrieben hat, weil er sich fürchtet.«

»Was soll ich tun?«

»Ich habe bis jetzt nur eine gute Idee gehabt. Ich glaube mich zu erinnern, daß Adrian Fielding einen Bruder gehabt hat, der in Carne unterrichtet...«

»Er ist dort Internatsleiter, wenn er nicht ausgeschieden ist.«

»Nein, er scheidet dieses Semester aus - vor einigen Wochen stand es in der Times, in der kleinen Ecke auf der Seite mit den Hofnachrichten, wo Carne sich immer selbst anzeigt. Es hieß da: >Carne School beginnt heute das Fastensemester. Mr. T. R. Fielding wird am Ende des Semesters ausscheiden, nachdem er die vorgeschriebenen fünfzehn Jahre als Internatsleiter vollendet hat.<«

Smiley lachte.

»Wirklich, Brim, dein Gedächtnis ist schon fast absurd.«

»Es war die Erwähnung Fieldings... Wie dem auch sei, ich dachte, du könntest ihn anrufen. Du mußt ihn kennen.«

»Ja, ja. Ich kenne ihn. Zumindest habe ich ihn einmal in Magdalen College bei einem Dinner getroffen. Aber-« Smiley wurde ein bißchen rot.

»Aber was, George?«

»Nun, er ist nicht das, was sein Bruder war.«

»Wie könnte er das sein?« erwiderte Miss Brimley ein wenig scharf. »Aber er kann dir etwas über Stella Rode sagen. Und über ihren Mann.«

»Ich glaube nicht, daß er das am Telefon tun könnte. Ich meine, ich suche ihn lieber auf. Aber was kann dich hindern, Stella Rode anzurufen?«

»Heute abend doch nicht, oder? Ihr Mann wird zu Hause sein. Ich dachte, ich könnte ihr heute abend einen Brief schicken und ihr sagen, daß sie mich jederzeit besuchen kann. Aber«, setzte sie mit einer leichten, ungeduldigen Bewegung des Fußes fort, »ich möchte jetzt etwas tun, George.«

Smiley nickte und ging zum Telefon. Er rief die Auskunft an und fragte nach Terence Fieldings Nummer. Nach einer langen Pause sagte man, er möge die Telefonzentrale von Carne School anrufen, die ihn mit jedem gewünschten Teilnehmer verbinden würde.

Miss Brimley, die ihn beobachtete, wünschte sich, sie wüßte etwas mehr über George Smiley, etwa, wieviel von jener Scheu nur angenommen, wie verwundbar er war.

»Der Beste«, hatte Adrian gesagt. »Der Stärkste und der Beste.«

Aber so viele Männer hatten im Krieg Stärke gewonnen, hatten schreckliche Dinge gelernt, und ihr Wissen mit einem Schauder wieder abgelegt, als er zu Ende war.