Bei der Nummer klingelte es jetzt. Sie hörte das Amtsfreizeichen und war einen Augenblick von Furcht erfüllt. Zum erstenmal hatte sie Angst, sich lächerlich zu machen, Angst, in unwahrscheinliche Auseinandersetzungen mit steifen, argwöhnischen Leuten verwickelt zu werden.
»Mr. Terence Fielding bitte...« Eine Pause.
»Fielding, guten Abend. Mein Name ist George Smiley; ich habe Ihren Bruder gut gekannt, im Krieg. Wir haben uns tatsächlich einmal kennengelernt... Ja, ja, ganz richtig - Magdalen, war es nicht vorigen Sommer? Hören Sie, ich möchte fragen, ob ich Sie einmal in einer persönlichen Angelegenheit aufsuchen dürfte... ziemlich schwierig, am Telefon zu erklären. Eine Freundin von mir hat einen etwas beunruhigenden Brief von der Frau eines Lehrers in Carne bekommen... Nun, ich... Rode, Stella Rode; ihr Mann...«
Plötzlich erstarrte er, und Miss Brimley, die Augen auf ihn gerichtet, sah entsetzt, wie sein pausbäckiges Gesicht einen Ausdruck von Schmerz und Abscheu bekam. Sie hörte nicht mehr, was er sagte. Sie konnte nur die schreckliche Veränderung seines Gesichtes beobachten, und wie die Knöchel seiner Hand, die den Hörer festhielten, weiß wurden. Er sah sie jetzt an, sagte etwas... es war zu spät. Stella Rode war tot. Sie war Mittwoch spät am Abend ermordet worden. Sie waren sogar an jenem Abend, als es geschah, bei Fielding zum Dinner gewesen.
DIE MORDNACHT
Der Sieben-Uhr-fünf von London-Waterloo nach Yeovil ist kein beliebter Zug, obwohl man in ihm ein ausgezeichnetes Frühstück bekommt. Smiley hatte keine Mühe, ein leeres Erste-Klasse-Abteil zu finden. Es war ein bitterkalter Tag, dunkel, und der Himmel schwer von Schnee. Smiley saß, in einen umfangreichen Reisemantel kontinentaler Herkunft gehüllt, und hielt ein Bündel Zeitungen dieses Tages in seinen behandschuhten Händen. Da er ein pedantischer Mensch war und keinen Wert darauf legte zu hetzen, war er dreißig Minuten vor der Abfahrtszeit des Zuges eingetroffen. Noch müde von den Belastungen der vorangegangenen Nacht, in der er aufgeblieben war und mit Ailsa Brimley bis weiß Gott wann geredet hatte, verspürte er keine Lust zu lesen. Als er aus dem Fenster auf einen fast leeren Bahnhof blickte, gewahrte er zu seiner großen Überraschung Miss Brimley, die den Bahnsteig entlangging und in die Fenster sah, eine Tragtasche in der Hand. Er ließ das Fenster herunter und rief ihr zu: »Meine liebe Brim, was tust du denn so schrecklich früh hier? Du solltest im Bett sein.«
Sie setzte sich ihm gegenüber, packte ihre Tasche aus und überreichte ihm den Inhalt: Thermosflasche, belegte Brote und Schokolade.
»Ich wußte nicht, ob der Zug einen Speisewagen führt«, erklärte sie, »und außerdem wollte ich mich von dir verabschieden. Du bist so nett, George, und ich wünschte, ich könnte dich begleiten. Aber Unipress würde wild werden, wenn ich's täte. Sie bemerken einen nur dann, wenn man nicht da ist.«
»Hast du die Zeitungen gelesen?« fragte er.
»Nur flüchtig, unterwegs hierher. Sie meinen anscheinend, daß es nicht er war, sondern irgendein Verrückter...«
»Ich weiß, Brim. Das sagte auch Fielding, nicht wahr?« Ein Augenblick unbehaglichen Schweigens folgte.
»George, bin ich ein schrecklicher Dummkopf, wenn ich dich so reisen lasse? Gestern nacht war ich sicher, aber jetzt überlege ich...«
»Nachdem du gegangen warst, rief ich Ben Sparrow vom Sonderdezernat an. Du erinnerst dich doch an ihn, nicht? Er war im Krieg bei uns. Ich erzählte ihm die ganze Geschichte.«
»George! Um drei Uhr morgens?«
»Ja. Er ruft den Polizei-Superintendenten in Carne an. Er wird ihm von dem Brief berichten, und daß ich komme. Ben hatte den Einfall, daß jemand namens Rigby den Fall bearbeiten sollte. Rigby und Ben waren zusammen auf der Polizeischule.« Er sah sie einen Augenblick freundlich an. »Außerdem, ich bin ein Mann, der Zeit hat, Brim. Die Abwechslung wird mir guttun.«
»Dank dir, George«, sagte Miss Brimley, Frau genug, ihm zu glauben. Sie stand auf, um zu gehen, und Smiley sagte:
»Brim, solltest du sonst irgendeine Hilfe brauchen, oder irgendwas, und mich nicht erreichen können - es gibt jemanden namens Mendel, er wohnt in Mitcham, ein pensionierter Polizeiinspektor. Er steht im Telefonbuch. Wenn du ihn erreichst und dich auf mich berufst, wird er für dich tun, was er kann. Ich habe ein Zimmer im >Sawley Arms< bestellt.«
Wieder allein, besah Smiley den Vorrat an Essen und Trinken, den Miss Brimley besorgt hatte. Er hatte sich den Luxus eines Frühstücks im Speisewagen versprochen. Er würde die Brote und den Kaffee für später aufheben, das war das beste; vielleicht fürs Mittagessen. Und er würde ordentlich frühstücken.
Im Speisewagen las Smiley zuerst die weniger sensationellen Berichte über den Tod von Stella Rode. Aus ihnen ging hervor, daß Mr. und Mrs. Rode am Mittwochabend Gäste bei einem Dinner von Mr. Terence Fielding gewesen waren, dem Senior der Internatsleiter von Carne und Bruder des verstorbenen Adrian Fielding, des berühmten Romanisten, der während des Krieges als Sonderbeauftragter des Kriegsministeriums verschwunden war. Sie hatten Mr. Fieldings Haus gemeinsam um etwa zehn vor elf verlassen und waren zu Fuß die achthundert Meter vom Zentrum von Carne zu ihrem Haus gegangen, das einsam am Rande der berühmten Carne-Sportplätze stand. Als sie ihr Haus erreichten, fiel Mr. Rode ein, daß er in Mr. Fieldings Haus einige Prüfungsarbeiten hatte liegenlassen, die noch in dieser Nacht eilige Korrekturen erforderten. (An dieser Stelle fiel Smiley ein, daß er vergessen hatte, seinen Smoking einzupacken, und daß ihn Fielding höchstwahrscheinlich zum Essen einladen würde.) Rode beschloß, zu Fieldings Haus zurückzugehen und die Prüfungsarbeiten zu holen, und war daher etwa um fünf nach elf umgekehrt. Offenbar hatte sich Mrs. Rode eine Tasse Tee gemacht und ins Wohnzimmer gesetzt, um die Rückkehr ihres Mannes zu erwarten.
An der Rückseite des Hauses befindet sich ein Wintergarten, dessen Innentür zum Wohnzimmer führt. Dort fand Rode schließlich seine Frau, als er zurückkehrte. Es gab Spuren eines Kampfes, und gewisse billige Schmuckstücke fehlten an der Leiche. Das Durcheinander im Wintergarten war schrecklich. Glücklicherweise war am Mittwochnachmittag Neuschnee gefallen, und Kriminalbeamte aus Dorchester untersuchten die Fußabdrücke und andere Spuren am frühen Morgen des Donnerstags. Mr. Rode war im Zentralkrankenhaus von Dorchester wegen Schock behandelt worden. Die Polizei wollte eine Frau aus dem nahegelegenen Dorf Pylle vernehmen, die wegen ihrer exzentrischen und seltsamen Gewohnheiten örtlich als »Verrückte Janie« bekannt war. Mrs. Rode, die in Carne wegen ihres tatkräftigen Wirkens zugunsten des Internationalen Flüchtlingsjahres wohlbekannt war, hatte offenbar ein mitleidiges Interesse an ihrem Ergehen gezeigt. Janie war seit der Mordnacht verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Die Polizei war augenblicklich der Meinung, daß der Mörder Mrs. Rode durch das Wohnzimmerfenster gesehen (sie hatte die Vorhänge nicht zugezogen) und daß Mrs. Rode den Mörder an der Vordertür eingelassen habe, im Glauben, es sei ihr von Mr. Fieldings Haus zurückkehrender Mann. Der Pathologe des Innenministeriums hatte die Weisung erhalten, eine Obduktion vorzunehmen.
Die anderen Berichte waren nicht so zurückhaltend. »Ein abscheulicher Mord entweiht die geheiligten Sportplätze von Carne«, begann einer, und ein anderer: »Chemielehrer findet ermordete Frau in blutbespritztem Wintergarten.« Ein dritter schrie: »Verrückte Frau im Carne-Mord gesucht.« Mit einem Ausdruck des Abscheus knüllte Smiley alle Zeitungen außer dem Guardian und der Times zusammen und warf sie ins Gepäcknetz.
Er stieg in Yeovil in einen Lokalzug nach Sturminster, Okeford und Carne um. Es war etwas nach elf Uhr, als er endlich in der Bahnstation Carne ankam.
Vom Bahnhof rief er das Hotel an und schickte sein Gepäck mit einem Taxi voraus. Das »Sawley Arms« war nur am Kriegsgedenk- und am St.-Andreas-Tag voll. Die meiste Zeit des Jahres war es leer; es saß wie eine prüde viktorianische Dame, sein Schieferdach in der violetten Farbe der Halbtrauer, auf schlechtgepflegtem Rasen zwischen dem Bahnhof und der Abtei Carne.