Es lag noch immer Schnee, aber der Tag war schön und trocken. Smiley beschloß, in die Stadt zu gehen und sich mit dem Polizeibeamten zu verabreden, der die Morduntersuchung leitete. Er verließ den Bahnhof mit seinem Vorgeschmack viktorianischer Nüchternheit und ging die Allee kahler Bäume hinunter, die zu dem großen Turm der Abtei führte; der Bau zeichnete sich platt und schwarz vom farblosen Winterhimmel ab. Smiley überquerte den Hof der Abtei, einen ehrwürdigen und wunderbaren Platz mit mittelalterlichen Häusern; die Dächer waren schneebedeckt, der weiße Rasen war durch die feinen Striche der Gräser schattiert. Als er die Westtür der Abtei passierte und der weiche Schnee unter seinen Schritten knirschte, schlug die Glocke hoch über ihm die halbe Stunde: zwei Ritter zu Pferde sprengten aus ihrer kleinen Burg über der Pforte und hoben langsam die Lanzen, um einander zu begrüßen. Dann öffneten sich, als sei das alles ein Teil des gleichen Uhrwerkes, andere Türen rund um den Hof und entließen Schwärme schwarz-röckiger Jungen, die durch den Schnee zur Abtei stürmten. Ein Junge kam so nahe vorbei, daß sein Talar Smileys Ärmel streifte. Smiley rief ihn an, als er vorbeirannte.
»Was ist los?«
»Sext* [Die sechste der kanonischen Stunden oder Gebetszeiten (gegen 12 Uhr mittags)]«, schrie der Junge als Antwort und war verschwunden.
Er ging am Haupteingang der Schule vorbei und kam sogleich zum Verwaltungszentrum der Stadt, in ein trauriges Märchenland, aus dem Gestein der Gegend im Stil des 19. Jahrhunderts erbaut, und zusammengehalten durch ein Gewirr gotischer Schornsteine und schießschartenähnlicher Fenster. Hier war das Rathaus und daneben, mit der St.-Georgs-Fahne am Flaggenmast, die Polizeidirektion von Carne, vor neunzig Jahren erbaut, um dem Ansturm von Bogenschützen und Rammböcken zu trotzen.
Er nannte dem Wachhabenden seinen Namen und bat, den Polizeibeamten sprechen zu können, der den Tod von Mrs. Rode untersuchte. Der Sergeant, ein älterer, undurchdringlicher Mann, wandte sich dem Telefon mit einer gewissen Förmlichkeit zu, als gelte es, ein schwieriges Taschenspielerkunststück zu vollführen. Zu Smileys Überraschung wurde ihm gesagt, daß Inspektor Rigby sich freuen würde, ihn sofort zu empfangen, und ein Polizeianwärter wurde aufgefordert, ihm den Weg zu zeigen. Er wurde in munterem Tempo das weite Treppenhaus in der Mitte der Halle hinaufgeführt und befand sich in wenigen Augenblicken vor dem Inspektor.
Er war ein sehr gedrungener und sehr breitschultriger Mann. Er hätte ein Kelte aus den Zinnminen von Cornwall oder den Kohlenschächten von Wales sein können. Sein dunkles, graumeliertes Haar war sehr kurz geschnitten; es wuchs wie eine Teufelskappe in einer Spitze in seine Stirn hinein. Seine Hände waren groß und kraftvoll, er hatte den Leib und die Haltung eines Ringers, aber er sprach langsam, seine leise Stimme hatte den brummenden Ton von Dorset. Smiley bemerkte rasch, daß er eine bei kleinen Menschen seltene Eigenschaft besaß: Offenheit. Obwohl seine Augen dunkel und leuchtend waren, seine Körperbewegungen rasch, vermittelte er einen Eindruck von Ehrlichkeit und Geradheit.
»Ben Sparrow rief mich heute morgen an, Sir. Ich bin sehr froh, daß Sie gekommen sind. Ich nehme an, Sie haben einen Brief für mich.«
Rigby sah Smiley nachdenklich über seinen Schreibtisch hinweg an und entschied, daß ihm gefiel, was er sah. Er war im Krieg herumgekommen und hatte ein wenig, nur ein klein wenig, von der Arbeit in George Smileys Abteilung gehört. Wenn Ben sagte, Smiley sei in Ordnung, so genügte ihm das - oder beinahe. Aber Ben hatte mehr als das gesagt:
»Sieht aus wie ein Frosch, zieht sich an wie ein Buchmacher und hat einen Verstand, für den ich meine Augen hergäbe. Hat eklige Zeiten erlebt im Krieg. Wirklich sehr eklig.«
Nun, er sah wie ein Frosch aus, wahrhaftig. Gedrungen und stämmig, runde Brille mit dicken Gläsern, die seine Augen vergrößerten. Und seine Kleider waren eigenartig. Teuer, wohlgemerkt, das konnte man sehen. Aber seine Jacke schien zu drapieren, wo gar kein Platz für Drapierung war. Was Rigby überraschte, war seine Schüchternheit. Rigby hatte jemanden erwartet, der ein wenig auftrumpfte, ein wenig zu glatt für Carne, während Smiley tatsächlich eine ernsthafte Förmlichkeit an den Tag legte, die Rigbys konservativem Geschmack zusagte.
Smiley nahm das Schreiben aus seiner Brieftasche und legte es auf den Tisch, während Rigby eine alte goldgefaßte Brille aus einem abgenutzten Metallfutteral herausnahm und die Bügel sorgfältig über den Ohren befestigte.
»Ich weiß nicht, ob Ben das erklärt hat«, sagte Smiley, »aber dieser Brief wurde an die Korrespondenzabteilung einer kleinen Nonkonformisten-Zeitschrift geschickt, die Mrs. Rode hielt.«
»Und Miss Fellowship ist die Dame, die Ihnen den Brief brachte?«
»Nein; sie heißt Brimley. Sie gibt die Zeitschrift heraus. Fellowship ist nur ein Deckname für die Bearbeiterin des Leserbriefkastens.«
Die braunen Augen richteten sich einen Augenblick auf ihn.
»Wann erhielt sie diesen Brief?«
»Gestern, am Siebzehnten. Donnerstag ist der Tag, an dem sie in Druck gehen, ihr arbeitsreichster Tag. Die Nachmittagspost wird gewöhnlich erst am Abend geöffnet. Dieser Brief wurde gegen sechs Uhr geöffnet, glaube ich.«
»Und sie brachte ihn sofort zu Ihnen?«
»Ja.«
»Warum?«
»Sie arbeitete im Krieg für mich, in meiner Abteilung. Sie hatte Hemmungen, direkt zur Polizei zu gehen - ich war die einzige Person, die ihr einfiel und die kein Polizist war«, fügte er albern hinzu. »Die helfen konnte, meine ich.«
»Darf ich fragen, Sir, was Sie selbst für einen Beruf ausüben?«
»Nichts Besonderes. Ein bißchen Privatforschung über Deutschland im siebzehnten Jahrhundert.« Es klang sehr läppisch.
Rigby schien das nicht zu stören.
»Was ist mit diesem früheren Brief, den sie erwähnt?«
Smiley übergab ihm nun den zweiten Umschlag, und wieder nahm ihn die große, viereckige Hand entgegen.
»Sie gewann das Preisausschreiben«, erklärte Smiley. »Ihre Einsendung bekam den Preis. Ich hörte, daß sie aus einer Familie stammt, die die Zeitschrift seit ihrer Gründung abonniert hat. Aus diesem Grund war Miss Brimley auch weniger geneigt, den Brief als Unsinn zu betrachten. Nicht, daß daraus folgt-«
»Nicht, daß was daraus folgt?«
»Ich meinte, die Tatsache, daß ihre Familie die Zeitschrift seit fünfzig Jahren abonniert hat, schließt logischerweise keineswegs die Möglichkeit aus, daß sie geistesgestört war.«
Rigby nickte, als verstehe er, was gemeint war, aber Smiley hatte das ungemütliche Gefühl, daß dem nicht so war.
»Ah«, sagte Rigby mit einem langsamen Lächeln, »Frauen, wie?«
Smiley, völlig verwirrt, lachte ein bißchen. Rigby sah ihn nachdenklich an.
»Kennen Sie irgend jemanden vom Lehrkörper hier, Sir?«
»Nur Mr. Terence Fielding. Wir lernten uns vor einiger Zeit bei einem Dinner in Oxford kennen. Ich wollte ihn aufsuchen. Ich habe seinen Bruder ganz gut gekannt.«
Rigbys Haltung schien sich bei der Erwähnung Fieldings etwas zu versteifen, aber er sagte nichts, und Smiley fuhr fort:
»Fielding habe ich auch angerufen, als mir Miss Brimley den Brief brachte. Er gab mir die Nachricht. Das war gestern nacht.«
»Ich verstehe.«
Wieder sahen sie einander schweigend an, Smiley unbehaglich und etwas komisch, Rigby ihn abschätzend und überlegend, wieviel er sagen sollte.
»Wie lange bleiben Sie?« fragte er schließlich.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Smiley. »Miss Brimley wollte selbst herkommen, aber sie muß sich um ihre Zeitschrift kümmern. Sie legte großen Wert darauf, alles in ihren Kräften Stehende für Mrs. Rode zu tun, obwohl diese bereits tot war. Weil sie Abonnentin war, glaube ich. Ich versprach, mich darum zu kümmern, daß dieser Brief rasch in die richtigen Hände käme. Ich glaube nicht, daß ich sonst noch viel tun kann. Wahrscheinlich werde ich ein oder zwei Tage bleiben, nur um mich mit Fielding zu unterhalten... der Beerdigung beizuwohnen. Ich habe mich im >Sawley Arms< einquartiert.«