»Und Fingerabdrücke?« fragte Smiley. »Wie steht's damit?«
»Die von Mr. Rode waren überall. Auf dem Boden, den Wänden und Fenstern, sogar auf der Leiche. Aber es gab auch andere Abdrücke; Blutwischer, wenig mehr, wahrscheinlich von einer behandschuhten Hand verursacht.«
»Und das waren die des Mörders?«
»Sie waren da, ehe Rode seine hinterließ. In einigen Fällen waren Rodes Abdrücke teilweise über die Handschuhabdrücke gelagert.«
Smiley schwieg eine Weile.
»Diese Prüfungsarbeiten, derentwegen er zurückging, waren sie denn so wichtig?«
»Ja. Wie man mir gesagt hat, ja. Jedenfalls einigermaßen. Die Zensuren waren Mr. D'Arcy bis Freitag auszuhändigen.«
»Aber warum nahm er sie dann vorher zu Fielding mit?«
»Das tat er nicht. Er hatte den ganzen Nachmittag Prüfungsaufsicht gehabt, und die Arbeiten wurden ihm um sechs Uhr ausgehändigt. Er tat sie in seine Mappe und ließ sie durch einen Jungen zu Fielding bringen - durch den Präfekten in Mr. Fieldings Haus. Sein Name ist Perkins. Rode hatte letzte Woche Kirchendienst, daher hatte er keine Zeit, vor dem Abendessen nach Hause zu gehen.«
»Wo zog er sich dann um?«
»Im Lehrerankleidezimmer neben den Gemeinschaftsräumen. Dort gibt es Einrichtungen, hauptsächlich für Sportlehrer, die etwas entfernt von Carne wohnen.«
»Der Junge, der die Mappe zu Fieldings Haus brachte - wer war das?«
»Ich kann Ihnen nicht viel mehr sagen, als ich bereits getan habe. Sein Name ist Perkins; er ist Präfekt von Mr. Fieldings Haus. Fielding hat mit ihm gesprochen und Rodes Aussage bestätigt... Internatsleiter sind sehr auf ihre Jungen bedacht, wissen Sie... mögen es nicht, wenn rauhe Polizisten mit ihnen sprechen.« Rigby schien etwas aufgebracht.
»Ich begreife«, sagte Smiley endlich, hilflos, und dann: »Aber wie erklären Sie den Brief?«
»Wir haben nicht nur den Brief zu erklären.«
Smiley sah ihn scharf an. »Was meinen Sie?«
»Ich meine«, sagte Rigby langsam, »daß Mrs. Rode in den letzten Wochen einige ziemlich merkwürdige Dinge getan hat.«
BÜRGERROCK UND GELEHRTENTALAR
»Mrs. Rode gehörte natürlich zur Chapel*[Dissenter (Protestanten, die sich nicht zur anglikanischen Kirche bekennen)]-Gemeinde«, fuhr Rigby fort, »und dazu gehören in Carne ziemlich viele. Um die Wahrheit zu sagen«, fügte er mit einem langsamen Lächeln hinzu, »meine Frau gehört auch dazu. Vor einigen Wochen kam unser Prediger mich besuchen. Es war am Abend, so um halb sieben. Ich dachte gerade ans Nachhause gehen. Er kam hier herein und setzte sich dahin, wo Sie jetzt sitzen. Er ist ein großer Kerl, der Prediger, ein feiner Mann; kommt aus dem Norden, wo auch Mrs. Rode herstammt. Cardew heißt er.«
»Der Mr. Cardew in dem Brief?«
»Ja, der. Er wußte alles über Mrs. Rodes Familie, bevor die Rodes überhaupt hierherkamen. Glaston, der Name bedeutet im Norden etwas, und Mr. Cardew war sehr entzückt, als er hörte, daß Stella Rode Mr. Glastons Tochter war, sehr entzückt. Mrs. Rode ging regelmäßig wie die Uhr zum Bethaus, wie Sie sich denken können, und das schätzt man hier. Meine Frau war begeistert wie nur was, kann ich Ihnen sagen. Es war das erste Mal, daß irgend jemand aus den Schulkreisen das getan hatte. Die meisten Chapel-Anhänger hier sind Kaufleute - was wir die Ortseingesessenen nennen.« Rigby lächelte wieder. »Es passiert nicht oft, daß Bürgerrock und Gelehrtentalar sozusagen zusammenkommen. Nicht hier.«
»Wie steht's mit ihrem Mann? Gehörte er auch zur Chapel?«
»Nun, er hatte dazugehört, so hatte sie Mr. Cardew erzählt. Mr. Rode war in Branxome geboren und aufgewachsen, und seine ganze Familie gehörte zur Chapel-Gemeinde. Ich hörte, daß Mr. und Mrs. Rode sich so zum ersten Mal begegnet sind - im Bethaus von Branxome. Waren Sie jemals dort? Eine feine Kirche, Branxome, ganz oben auf dem Hügel, mit Blick aufs Meer.«
Smiley schüttelte den Kopf, und Rigbys große braune Augen ruhten einen Augenblick nachdenklich auf ihm.
»Sie sollten hinfahren«, sagte er, »Sie sollten hinfahren und sie sich ansehen. Es scheint«, fuhr er fort, »daß Mr. Rode zur anglikanischen Kirche übertrat, als er nach Carne kam. Versuchte sogar, auch seine Frau dazu zu überreden. Sie sind sehr stark hier an der Schule. Das erfuhr ich eigentlich von meiner Frau. In der Regel lasse ich mir von ihr als Polizistenfrau keinen Klatsch erzählen, aber Mr. Cardew sagte es ihr selbst.«
»Ich verstehe«, sagte Smiley.
»Also, Cardew kam und besuchte mich. Er war ganz durcheinander und mit sich uneins. Er wußte nicht, was er davon halten sollte, wollte aber mit mir als Freund und nicht als Polizisten sprechen.« Rigby sah verdrießlich drein. »Wenn die Leute mir das sagen, weiß ich immer, daß sie doch mit mir als Polizisten sprechen wollen. Dann erzählte er mir seine Geschichte. Mrs. Rode hätte ihn an diesem Nachmittag besucht. Er sei aus gewesen, eine Bäuerin drüben in Okeford zu besuchen, und nicht vor etwa halb sechs nach Hause gekommen, daher hatte Mrs. Cardew mit ihr sprechen und die Festung halten müssen, bis der Prediger heimkam. Mrs. Rode war weiß wie ein Leintuch und saß sehr still am Feuer. Sowie der Prediger eintraf, ließ Mrs. Cardew sie allein, und Stella Rode begann über ihren Mann zu sprechen.« Er machte eine Pause. »Sie sagte, Mr. Rode wolle sie töten. In den langen Nächten. Sie schien eine Art fixer Idee zu haben, daß sie in den langen Nächten ermordet werden würde. Cardew nahm das zuerst nicht allzu ernst, entschied aber, nachdem er es hinterher überdacht hatte, es mich wissen zu lassen.« Smiley sah ihn scharf an.
»Er konnte nicht herausbekommen, was sie meinte. Er dachte, sie sei von Sinnen. Er ist ein nüchterner Mann, wissen Sie, obwohl er Prediger ist. Ich glaube, er war vielleicht etwas zu streng mit ihr. Er fragte, wer ihr diesen schrecklichen Gedanken in den Kopf gesetzt habe, und sie begann zu weinen. Offenbar nicht hysterisch, sondern still für sich. Er versuchte, sie zu beruhigen, versprach, ihr in jeder möglichen Weise zu helfen, und fragte sie wieder, wie sie auf die Idee gekommen sei. Sie schüttelte nur den Kopf, stand dann auf und ging zur Tür, immer noch verzweifelt den Kopf schüttelnd. Sie wandte sich ihm zu, und er dachte, sie würde etwas sagen, doch sie sagte nichts. Sie ging einfach weg.«
»Wie außerordentlich seltsam, daß sie in ihrem Brief darüber nicht die Wahrheit gesagt hat. Sie strengte sich besonders an, zu erklären, daß sie Cardew nichts gesagt hätte.«
Rigby zuckte mit den breiten Schultern.
»Entschuldigen Sie«, sagte er, »ich bin in einer verflixt schwierigen Lage. Der Polizeidirektor würde sich eher den Hals abschneiden, als Scotland Yard hinzuziehen. Er will eine Verhaftung, und zwar rasch. Wir haben genug Anhaltspunkte, um einen Weihnachtsmann damit zu dekorieren: Fußabdrücke, Mordzeit, Angaben über die Kleidung des Mörders und sogar noch die Mordwaffe.«
Smiley sah ihn überrascht an. »Sie haben die Waffe also gefunden?«
Rigby zögerte. »Ja, wir haben sie gefunden. Kaum eine Menschenseele weiß das, Sir, und ich bitte Sie, das nicht zu vergessen. Wir fanden sie am Morgen nach dem Mord, sechs Kilometer nördlich von Carne, auf der Straße nach Okeford. Sie war in einen Graben geworfen worden. Ein fünfundvierzig Zentimeter langes Stück eines sogenannten Koaxialkabels. Sie kennen das doch? Es gibt sie in allen Größen, aber dieses Stück hat etwa fünf Zentimeter Durchmesser. Ein Kupferstab läuft durch die Mitte, und zwischen Stab und Außenhülle befindet sich eine Plastikisolierung. Es war Blut daran: Stella Rodes Blutgruppe, und Haare von ihrem Kopf, die im Blut klebten. Wir bewahren darüber Stillschweigen. Gott sei Dank wurde das von einem unserer Leute gefunden. Es weist auf die Richtung hin, die der Mörder eingeschlagen hat.«