Robert Silverberg
Ein Präzedenzfall
Am Abend vorher war die Sonne blutrot untergegangen, und Colonel John Devall hatte deshalb schlecht geschlafen. Die Atmosphäre auf Markin förderte für gewöhnlich blutrote Sonnenuntergänge nicht, auch wenn sie gelegentlich an Abenden vorkamen, wo das Blau des Sonnenlichts besonders gut gestreut war. Die Marker brachten blutrote Sonnenuntergänge mit bevorstehendem Unheil in Zusammenhang. Colonel Devall, der die kulturelle und militärische Mission auf Markin leitete, neigte selbst mehr zur Kultur als zum Militär und akzeptierte deshalb den Glauben der Marker, daß der Sonnenuntergang einen Konflikt ankündigte.
Er war ein hochgewachsener Mann, gut gebaut, mit aufrechter Haltung und den scharfen, hellen Augen und der knappen Art des Militärs. Er versuchte erfolgreich, den Eindruck eines mit Autorität ausgestatteten Offiziers zu erwecken, und seine Männer achteten und fürchteten das Bild, das er ihnen darbot.
Eigentlich war er gelernter Anthropologe. Die militärische Laufbahn war ein späterer, aber kluger Entschluß gewesen; er hatte ihm das Kommando über den Vorposten auf Markin eingebracht. Das Amt für außerirdische Angelegenheiten gestand darauf, daß alle Missionen in relativ primitiven Fremdwelten von Militärs besetzt und geleitet wurden — und solange ich den äußeren Schein wahre, sagte sich Devall, wer soll ahnen, daß ich nicht der harte Soldat bin, für den sie mich halten? Markin war eine friedliche Welt. Die Eingeborenen waren intelligent, kulturell, wenn auch nicht technologisch, ziemlich weit fortgeschritten, und man kam gut mit ihnen aus.
Das erklärte, weshalb Devall in der Nacht der roten Sonne schlecht geschlafen hatte. Trotz seiner eleganten Haltung und Art hielt er sich im Grunde für einen unmilitärischen Menschen, dem Bücher mehr bedeuteten. Er hatte einige Zweifel über sein eigenes mögliches Verhalten in einer unvorhergesehenen Krise. Die falsche Fassade seines Offizierstums mochte unter starkem Druck zerbröckeln, und das wußte er.
Er fiel schließlich gegen Morgen in einen Halbschlaf, nachdem er die Decke auf den Boden geworfen und das Laken zerknüllt hatte. Es war eine warme Nacht, wie meist auf Markin, aber er fror ein wenig.
Er wurde spät wach, nur einige Minuten vor der Messegesellschaft, und kleidete sich hastig an, um rechtzeitig zur Stelle zu sein. Als Befehlshaber besaß er natürlich das Vorrecht, so lange zu schlafen, wie er wollte, aber gemeinsam mit den anderen aufzustehen, gehörte zu der Maske, die Devall sich aufzwang. Er zog die leichte Sommeruniform an, klatschte sich eilig den Bartentferner ins gebräunte Gesicht, schnallte seinen Dienststrahler mit dem Gürtel um und gab seiner Ordonnanz das Zeichen, daß er wach und bereit sei.
Die terranische Enklave nahm vierzigtausend Quadratmeter ein, eine halbe Stunde Fahrt von einem der größten Orte Markins entfernt. Vor Devalls kleiner Privatkuppel wartete ein Jeep mit laufendem Motor, und er stieg mit einem Nicken für die Ordonnanz ein.
»Morgen, Harris.«
»Guten Morgen, Sir. Gut geschlafen?«
Das war inzwischen zum Ritual geworden.
»Sehr gut«, erwiderte Devall automatisch, als die Turbinen des Jeeps aufdröhnten und das kleine Fahrzeug durch das Gelände zur Kasinohalle trieben. Am Sitz neben Devall war das tägliche Morgenprogrammblatt befestigt, das der Diensthabende vorbereitete, während Devall schlief. Heute war das Blatt unterzeichnet von Dudley, einem Major von enormer Tüchtigkeit — Weltraumkorps durch und durch, ein Berufssoldat und nichts anderes. Devall überflog die Diensteinteilung für den Vormittag.
›Kelly, Dorfman, Mellors, Steber wie üblich beim Sonderkommando Linguistik. Auftrag wie gestern, in der Stadt.
Haskeil medizinischer Dienst. Blutproben; Urinuntersuchung.
Matsuoko zum Instandhaltungspersonal — bis Mittwoch.
Jolli beim Zookommando.
Leonards, Meyer, Rodriguez zwei Tage Botanik-Fahrt. Zweiter Jeep für Probensammlung zugeteilt.‹
Devall überflog den Rest der Liste, aber Dudley hatte, wie erwartet, die Männer so eingeteilt, daß jeder an seinem Platz am nützlichsten und zufriedensten war. Devall dachte kurz an Leonards beim botanischen Ausflug. Eine Zweitagefahrt würde ihn vielleicht durch die gefährlichen Regenwälder im Süden führen. Devall machte sich ein wenig Sorgen. Der Junge war sein Neffe, der Sohn seiner Schwester — ein ganz brauchbarer Botanikergehilfe, das Leutnantsabzeichen noch ganz frisch auf der Schulterklappe. Es war die erste Offiziersstelle, die der Junge bekleidete; er war Devalls Einheit wahllos zugeteilt worden, als neuer Mann. Devall hatte seine Verwandtschaft mit Leonards vor den anderen geheimgehalten, weil er wußte, daß sie für den Jungen von Nachteil sein konnte, aber er verspürte noch immer einen Beschützerinstinkt.
Na, der junge Mann kommt schon zurecht, dachte Devall, zeichnete das Blatt ab und klemmte es wieder an; es würde jetzt ausgehängt werden, während die Mannschaften ihre Unterkünfte säuberten und die Offiziere aßen, und bis neun Uhr würden alle mit ihren Aufträgen unterwegs sein. Es gab so viel zu tun, dachte Devall, und so wenig Zeit dafür. Es gab so viele Welten…
Er stieg aus und betrat das Kasino. Die Offiziersmesse war eine kleine, gut beleuchtete Nische links vom Speisesaal; als Devall hereinkam, sah er sieben Männer in strammer Haltung warten.
Er wußte, daß sie nicht den ganzen Morgen so dastanden; sie hatten erst Haltung angenommen, als ihr Späher — wahrscheinlich Leutnant Leonards, der Jüngste — sein Kommen gemeldet hatte.
Na, spielt keine große Rolle, dachte er. Solange die Form gewahrt wird. Der Schein.
»Guten Morgen, meine Herren«, sagte er knapp und setzte sich an den Tisch.
Eine Weile sah es so aus, als sollte es ein recht guter Tag werden. Die Sonne stieg an einem wolkenlosen Himmel empor, und das Thermometer am Flaggenmast zeigte 34 Grad an. Wenn es auf Markin heiß wurde, dann richtig. Bis Mittag konnten sie, wie Devall inzwischen wußte, mit etwa 43 Grad im Schatten rechnen — und dann sank die Temperatur langsam bis auf 27, 28 Grad gegen Mitternacht.
Der Botaniktrupp fuhr pünktlich mit zwei Jeeps ab, und Devall sah ihnen einen Augenblick von den Stufen des Kasinos aus nach und beobachtete, wie die anderen Männer den Weg zu ihren Posten antraten. Sergeant Jolli mit den Bartstoppeln salutierte, als er durch das Gelände zum Zoo trabte, wo er die kleine Menagerie des Markinschen wilden Tierlebens pflegen würde, mit der die Expedition nach Beendigung ihres Auftrages zur Erde zurückkehren sollte. Der drahtige, kleine Matsuoko kam mit Zimmermannsausrüstung vorbei. Das Linguistenteam stieg in den Jeep und fuhr zur Stadt, wo es mit dem Studium der Markinschen Sprache fortfahren sollte.
Sie waren alle beschäftigt. Die Expedition befand sich genau vier Monate auf Markin; acht Monate standen noch bevor. Wenn der Aufenthalt durch eine Anordnung von der Erde nicht verlängert wurde, würden sie für sechs Monate Urlaub plus Berichterstattung einpacken und zurückfliegen, und dann ging es für ein weiteres Jahr auf irgendeine andere Welt.
Devall freute sich nicht auf den Abflug. Markin war eine angenehme Welt, wenn auch etwas heiß, und niemand konnte sagen, wie die nächste Welt beschaffen sein würde. Eine Kugel aus gefrorenem Methangas, vielleicht, wo sie ihr Jahr eingehüllt in Valdez-Atemanzüge verbringen und versuchen würden, Verbindung mit irgendeiner Art intelligenter, ammoniakatmender Mollusken aufzunehmen. Besser der Teufel, den man kennt, dachte Devall.
Aber er mußte weiter. Das hier war seine elfte Welt, und es würden noch mehr werden. Die Erde besaß kaum genug qualifizierte Forschungsteams, um zehntausend Welten auch nur halbwegs ausreichend zu prüfen, und Leben gedieh auf zehn Millionen. Er würde jene Leute behalten, deren Leistung ihn befriedigte, die anderen ersetzen und seine nächste Aufgabe übernehmen.
Er schaltete den Ventilator im Büro ein und griff nach dem Logbuch; er öffnete den Einband und schob das erste leere Blatt in den Diktaschreiber. Zur Abwechslung vermied er einmal den gewohnten Lapsus; er räusperte sich, bevor er das Gerät einschaltete und ersparte der Maschine damit die gewohnten Schwierigkeiten, für sein Brrr-hmmm! eine Wortentsprechung zu finden.