Im Büro war es ganz still; das einzige, was Devall hörte, waren die rauhen Atemzüge des alten Priesters, und das Zirpen der grillenartigen Insekten im Gras vor dem Fenster.
Nachgeben? dachte er. Oder der Daumen des Oberherrn?
Plötzlich schien es in ihm keinen Zweifel mehr darüber zu geben, was er tun mußte, und er fragte sich, warum er so lange unentschlossen hatte zögern können.
»Ich höre und respektiere Ihre Wünsche«, sagte er in der rituellen Form, die Steber ihm beigebracht hatte. »Der Junge ist euer. Aber darf ich einen Gefallen erbitten?«
»Fragt.«
»Er wußte nicht, daß er gegen eure Gesetze verstieß. Er meinte es gut; er bedauert von Herzen, was er getan hat. Er ist jetzt in euren Händen — aber ich möchte für ihn um Gnade bitten. Er konnte nicht wissen, daß er sich verging.«
»Das wird man bei der Verhandlung sehen«, sagte der alte Priester kalt. »Wenn es Gnade geben soll, wird er sie erhalten. Ich verspreche nichts.«
»Nun gut«, sagte Devall. Er griff nach einem Block und kritzelte einen Befehl, der Leutnant Paul Leonards den fremden Wesen zum Prozeß überstellte, und unterschrieb mit vollem Namen und Rang. »Da. Geben Sie das dem Mann, der Sie hereingelassen hat. Er wird dafür sorgen, daß Ihnen der Junge übergeben wird.«
»Ihr seid weise«, sagte der Priester. Er verbeugte sich und ging zur Tür.
»Augenblick«, sagte Devall verzweifelt, als der Priester die Tür öffnete. »Noch eine Frage.«
»Fragt.«
»Sie haben mir erklärt, daß Sie seine Stelle einnehmen würden, wenn ich ihn nicht ausliefere. Nun, wie wäre es mit einer anderen Stellvertretung. Wenn nun — «
»Sie sind für uns nicht akzeptabel«, sagte der Priester, so, als habe er Devalls Gedanken gelesen, und ging.
Fünf Minuten später schaute der Colonel zum Fenster hinaus und sah die feierliche Prozession der fremden Wesen das Gelände verlassen. In ihrer Mitte, ohne Protest, befand sich Leonards. Er schaute sich nicht um, und Devall war froh darüber.
Der Colonel blickte lange auf die Bücherrücken, die zerfransten Spulen, die ihn von Welt zu Welt begleitet hatten, vom grauen Daneion zum stürmischen Lurrin zum knochentrockenen Korvel, und weiter nach Hegarth, M’Qualt und anderen, und jetzt zum warmen Markin mit seinem blauen Himmel. Er schüttelte den Kopf, drehte sich um und ließ sich in den Schaumsessel sinken.
Er schaltete mit einer heftigen Bewegung den Diktaschreiber ein und diktierte einen ausführlichen Bericht über sein Vorgehen, vom Anfang bis zu seiner Entscheidung, und lächelte bitter; es gab eine gewisse Verzögerung, aber bald würde der Diktaschreiber im Keller des Gebäudes in Rio de Janeiro anfangen zu rattern, und Thornton würde wissen, was Devall getan hatte.
Und Thornton würde in Zukunft nach dieser Maxime handeln müssen.
Devall schaltete die Sprechanlage ein und sagte: »Ich will unter keinen Umständen gestört werden. Wenn etwas dringend ist, soll sich Major Grey damit befassen; er ist bis zu einer gegenteiligen Anweisung amtierender Leiter des Stützpunkts. Und wenn Nachrichten von der Erde kommen, soll auch Grey sie bekommen.«
Er fragte sich, ob man ihn sofort seines Postens entheben oder warten würde, bis er auf die Erde zurückkam. Wahrscheinlich letzteres; Thornton besaß ein wenig Taktgefühl. Aber eine Untersuchung würde es mit Bestimmtheit geben, und irgendein Kopf mußte rollen.
Devall zuckte die Achseln und lehnte sich zurück. Ich habe das Richtige getan, sagte er sich entschieden. Das ist das, was feststeht.
Aber ich hoffe nur, daß ich nie wieder vor meine Schwester treten muß.
Nach einer Weile döste er mit halb offenen Augen, die sich immer mehr schlossen. Der Schlaf übermannte ihn, und er hieß ihn willkommen, weil er todmüde war.
Plötzlich weckte ihn lautes Geschrei. Ein Jubelruf aus einem Dutzend Kehlen zugleich, der durch die Luft gellte. Devall fand sich einen Augenblick lang nicht zurecht, dann war er plötzlich hellwach und stürzte zum Fenster.
Eine Gestalt — allein und zu Fuß — kam durch das offene Tor herein. Sie trug Uniform, die an mehreren Stellen zerfetzt und völlig durchnäßt war. Das blonde Haar klebte am Schädel, als sei der Mann beim Schwimmen gewesen; er wirkte erschöpft.
Leonards.
Der Colonel war schon halb durch die Tür, als er bemerkte, daß er nicht ordentlich angezogen war. Er korrigierte das und marschierte mit stählerner Würde hinaus.
Leonards stand in einem Knäuel von Offizieren und Mannschaft. Er grinste müde.
»Achtung!« rief Devall, und es wurde augenblicklich still. Er trat vor.
Leonards hob erschöpft den Arm zum militärischen Gruß. Devall bemerkte, daß er ein paar große Blutergüsse hatte.
»Ich bin zurück, Colonel.«
»Das sehe ich. Sie wissen, daß ich Sie trotzdem zurückschicken muß, ohne Rücksicht auf ihre zweifellos wagemutige Flucht.«
Der Junge lächelte und schüttelte den Kopf.
»Nein, Sir. Sie verstehen nicht. Der Prozeß ist vorbei. Ich bin freigesprochen worden.«
»Was?«
»Es war ein Prozeß mit Wasserprobe. Sie beteten etwa eine halbe Stunde lang, dann kippten sie mich in den See vorne an der Straße. Die beiden Brüder des Toten sprangen hinein und versuchten mich zu ertränken, aber ich schwamm schneller und kam sicher auf der anderen Seite heraus.« Er schüttelte den Kopf wie ein tropfnasser Hund, daß die Tropfen spritzten. »Einmal hätten sie mich fast erwischt. Aber als ich lebend ans andere Ufer kam, bewies das für sie, daß ich es nicht böse gemeint haben kann. Sie erklärten mich für unschuldig, entschuldigten sich und ließen mich frei. Sie beteten noch, als ich ging.«
Leonards schien keine Bitterkeit zu empfinden; anscheinend hatte er den Grund für seine Auslieferung verstanden, dachte Devall, und würde sie ihm nicht nachtragen. Das war gut.
»Gehen Sie lieber in Ihre Unterkunft und trocknen Sie sich ab, Leutnant. Dann kommen Sie in mein Büro. Ich möchte mit Ihnen reden.«
»Ja, Sir.«
Devall drehte sich auf dem Absatz um und ging durch die Lichtung zu seinem Büro. Er warf die Tür hinter sich zu und schaltete den Diktaschreiber ein. Der Bericht für die Erde mußte korrigiert werden.
Kurz nachdem er fertig geworden war, leuchtete das Lämpchen der Sprechanlage auf. Er schaltete ein und hörte Stebers Stimme sagen: »Sir, der alte Priester ist da. Er möchte sich bei Ihnen für alles entschuldigen. Er trägt Feiertagskleidung und hat uns eine Friedensgabe gebracht.«
»Sagen Sie ihm, ich käme sofort, und rufen Sie die Leute zusammen. Einschließlich Dudley. Vor allem Dudley. Ich möchte, daß er das sieht.«
Er zog die verschwitzte Jacke aus und nahm eine frische heraus. Als er sich im Spiegel sah, nickte er befriedigt. So, so, dachte er. Der Junge hat es also überstanden. Das ist gut.
Aber er wußte, daß das Schicksal von Paul Leonards von Anfang an bedeutungslos gewesen war, außer auf einer rein persönlichen Grundlage. Was zählte, war die umfassendere Bedeutung.
Zum erstenmal hatte die Erde eine konkrete Demonstration der Doktrin geliefert, alles intelligente Leben sei gleich, die sie die ganze Zeit predigte. Er hatte gezeigt, daß er die Markinschen Gesetze in dem Sinne achtete, den sie für die Bewohner dieses Planeten hatten, und sich damit die Zuneigung einer Rasse erworben. Daß der Junge gesund und wohlbehalten zurückgekehrt war, mußte man als unverdiente Zugabe bewerten.
Aber der Präzedenzfall war geschaffen. Und beim nächsten Mal, auf einer anderen Welt, vielleicht, mochte der Ausgang nicht so erfreulich sein. Manche Kulturen hatten ziemlich üble Methoden, Verbrecher zu Tode zu bringen.
Er begriff, daß die Bürde, mit der sich die Forschungsteams der Erde abplagten, noch um vieles schwerer geworden war — daß die Menschen nun den Gesetzen der Planeten unterworfen sein würden, auf denen sie zu Gast waren, und daß keine ahnungslosen botanischen Ausflüge in heilige Gärten mehr geduldet werden würden. Aber das konnte nur zum Guten sein, dachte er. Wir haben ihnen gezeigt, daß wir keine Oberherren sind, und daß die meisten von uns keine Oberherren sein wollen. Und jetzt wird sich der Daumen auf uns herabsenken.