Wenn wir könnten, wäre es natürlich das einfachste, sofort nach Westen zu drehen und auf die Einsamen Inseln zuzuhalten. Aber es hat achtzehn Tage gedauert, bis wir an der Stelle waren, wo wir jetzt sind, und mit dem Sturm hinter uns waren wir wahnsinnig schnell. Selbst wenn wir Ostwind bekämen, würden wir zurück vermutlich viel länger brauchen. Und im Moment gibt es keinerlei Anzeichen für Ostwind – tatsächlich weht überhaupt kein Wind. Und was das Zurückrudern betrifft, so würde es viel zu lange dauern, und Kaspian sagt, die Männer könnten nicht mit einem viertel Liter Wasser pro Tag rudern. Ich bin jedoch fast sicher, daß dies nicht stimmt. Ich versuchte ihm zu erklären, daß der Mensch sich durch das Schwitzen abkühlt und daß die Männer deshalb weniger Wasser brauchen, wenn sie arbeiten. Aber er ist nicht darauf eingegangen. So macht er es immer, wenn ihm keine Antwort einfällt. Die anderen haben alle dafür gestimmt, weiterzusegeln, in der Hoffnung darauf, daß man Land findet. Ich hielt es für meine Pflicht, darauf hinzuweisen, daß wir nicht wissen, ob vor uns Land liegt, und ich habe versucht, ihnen die Gefährlichkeit derartiger Illusionen vor Augen zu führen. Statt einen besseren Plan vorzulegen, hatten sie den Nerv, mich zu fragen, welchen Vorschlag ich denn hätte. Daraufhin habe ich ihnen kühl und ruhig erklärt, ich sei entführt und ohne meine Einwilligung auf diese idiotische Reise mitgenommen worden, deshalb wäre es wohl kaum meine Sache, ihnen aus der Patsche zu helfen.
4. September. Noch immer windstill. Zum Essen gab es sehr kleine Rationen, und ich bekam noch weniger als die anderen. Kaspian ist sehr geschickt beim Verteilen und denkt, ich würde es nicht merken. Aus irgendeinem Grund wollte Lucy mir dafür einen Teil ihrer Portion geben, aber dieser Besserwisser Edmund, der sich in alles einmischt, hat es nicht zugelassen. Die Sonne ist ziemlich heiß. Hatte den ganzen Abend furchtbaren Durst.
5. September. Noch immer windstill und sehr heiß. Habe mich den ganzen Tag über sehr schlecht gefühlt und bin sicher, daß ich Fieber habe. Natürlich haben sie nicht genug Verstand, um ein Thermometer an Bord zu haben.
6. September. Ein entsetzlicher Tag. Ich wachte nachts auf, und mir wurde klar, daß ich Fieber hatte und dringend etwas Wasser trinken mußte. Das hätte jeder Arzt auch gesagt. Der Himmel weiß, daß ich der Allerletzte bin, der sich einen ungerechten Vorteil verschaffen will, aber ich hätte mir nie träumen lassen, daß diese Wasserrationierung auch für Kranke gilt. Ich hätte ja auch die anderen aufgeweckt und um ein wenig Wasser gebeten, aber ich war der Meinung, es wäre egoistisch, sie aufzuwecken. Deshalb stand ich auf, nahm meine Tasse und verließ auf Zehenspitzen das schwarze Loch, in dem wir schlafen. Ich war sehr vorsichtig, um Kaspian und Edmund nicht zu stören, denn sie schlafen schlecht, seit es so heiß ist und das Wasser rationiert wird. Ich versuche immer, an andere zu denken, ob sie nun nett zu mir sind oder nicht. Ich habe es bis zu dem großen Raum geschafft, wenn man es einen Raum nennen kann, wo die Ruderbänke und die Ladung sind. Das Ding mit dem Wasser stand an meinem Ende. Alles lief prächtig, aber bevor ich mir eine Tasse voll abgezapft hatte, mußte mich ausgerechnet dieser kleine Schnüffler Riepischiep erwischen. Ich versuchte zu erklären, ich wolle an Deck und frische Luft schnappen (die Sache mit dem Wasser hatte ja mit ihm nichts zu tun), und er fragte mich, warum ich dann eine Tasse bei mir hätte. Er machte so ein Theater, daß das ganze Schiff aufwachte. Sie haben mich skandalös behandelt. Ich fragte, so, wie das vermutlich jeder getan hätte, warum Riepischiep mitten in der Nacht um das Wasserfaß herumschleicht. Er sagte, da er zu klein sei, um an Deck zu helfen, halte er jede Nacht beim Wasser Wache, damit dafür ein weiterer Mann schlafen könne. Und jetzt kommt die verdammte Ungerechtigkeit: sie haben alle ihm geglaubt! Das ist das Letzte!
Ich mußte mich entschuldigen, sonst wäre das gefahrliche kleine Biest mit dem Schwert auf mich losgegangen. Und dann hat Kaspian sein wahres Gesicht als brutaler Tyrann gezeigt und hat so laut, daß es alle hören konnten, gesagt, daß jeder, der beim Wasserstehlen ertappt würde, in Zukunft »zwei Dutzend« bekäme. Ich wußte nicht, was er damit meinte, bis Edmund es mir erklärte. Solche Sachen stehen in den Büchern, die diese Kinder lesen.
Nach dieser feigen Drohung schlug Kaspian einen anderen Ton an und begann, herablassend zu werden. Er sagte, ich täte ihm leid und alle anderen würden sich genauso fiebrig fühlen wie ich, und wir müßten alle das Beste daraus machen und so weiter. Ekelhafter, eingebildeter Besserwisser. Bin heute den ganzen Tag im Bett geblieben.
7. September. Heute kam ein wenig Wind auf, aber noch immer von Westen. Haben ein paar Meilen Richtung Osten zurückgelegt mit einem Teil des Segels auf dem »Geschworenenmast«, wie Drinian ihn nennt. Das heißt, daß der Bugspriet aufgerichtet und am Stumpf des richtigen Masts angebunden wurde (sie nennen das »festzurren«). Noch immer schrecklich durstig.
8. September. Wir segeln weiter nach Osten. Ich bleibe jetzt den ganzen Tag in meiner Koje und sehe niemand außer Lucy, bis die beiden Ungeheuer zu Bett gehen. Lucy gibt mir ein wenig von ihrer Wasserration ab. Sie sagt, Mädchen würden nicht so durstig werden wie Jungen. Ich habe das schon öfters gedacht, aber es müßte auf See noch besser bekannt werden.
9. September. Land in Sicht; ein sehr hoher Berg weit vor uns im Südosten.
10. September. Der Berg ist inzwischen größer und klarer, aber noch immer sehr weit weg. Heute tauchten zum ersten Mal seit einer Ewigkeit wieder Möwen auf.
11. September. Haben ein paar Fische gefangen und gegessen. Haben gegen sieben Uhr abends in drei Faden tiefem Wasser in einer Bucht dieser bergigen Insel Anker geworfen. Kaspian, dieser Idiot, ließ uns nicht an Land, weil es schon dunkel wurde und er Angst hatte vor den Wilden und den Tieren. Zusätzliche Wasserration heute abend.
Was sie auf dieser Insel erwartete, sollte Eustachius mehr als alle anderen betreffen, aber es kann nicht mit seinen eigenen Worten berichtet werden, weil er nach dem elften September lange Zeit vergaß, Tagebuch zu führen.
Als der Morgen sehr heiß, aber mit einer tiefhängenden grauen Wolkendecke anbrach, fanden sich die Abenteurer in einer Bucht, die so von Kliffen und schroffen Felsen eingerahmt war, daß sie wie ein norwegischer Fjord aussah. Vor ihnen, am Kopf der Bucht, lag flaches Land, das dicht bewachsen war mit zedernähnlichen Bäumen, zwischen denen ein schnell dahinfließender Bach ins Meer mündete. Dahinter erhob sich ein steiler Abhang mit einem zerklüfteten Kamm, und hinter diesem Abhang sah man verschwommen dunkle Berge, die bis zu den Wolken aufragten und deren Spitzen man deshalb nicht erkennen konnte. Auf den näherliegenden Kliffen der Bucht sah man hier und da weiße Linien, die alle als Wasserfälle erkannten, obwohl sie aus der Entfernung regungslos und still dazuliegen schienen. Tatsächlich war die ganze Gegend sehr ruhig, und das Wasser in der Bucht war so glatt wie Glas. Die Kliffe spiegelten sich mit jeder Einzelheit darin wider. Auf einem Bild wäre die Szene hübsch gewesen, aber im richtigen Leben war sie recht bedrückend. Es war kein Land, das Besucher willkommen hieß.
Die ganze Schiffsmannschaft begab sich in zwei Bootsladungen an Land, und alle tranken, wuschen sich im Fluß, aßen und ruhten sich aus. Dann sandte Kaspian vier Männer zum Schiff zurück, und die Arbeit begann. Es gab so viel zu tun. Die Fässer mußten an Land gebracht und die beschädigten mußten – sofern möglich – repariert und zusammen mit den anderen wieder aufgefüllt werden. Dann mußte ein Baum – und zwar eine Kiefer, falls es das hier gab – gefällt und ein neuer Mast daraus gezimmert werden; Segel mußten geflickt und eine Jagdgruppe organisiert werden, um soviel Wild wie nur irgend möglich zu erlegen; Kleider mußten gewaschen und geflickt und unzählige kleine Reparaturen ausgeführt werden. Denn die »Morgenröte« war kaum mehr als das stolze Schiff zu erkennen, das Enghafen verlassen hatte – jetzt, aus der Entfernung, sah man das noch deutlicher. Sie sah ganz verstümmelt aus, die Farbe war abgeblättert, und jeder hätte sie für ein Wrack gehalten. Auch die Offiziere und die Mannschaft sahen nicht besser aus – sie waren abgemagert, blaß, hatten vom mangelnden Schlaf rote Augen und waren in Lumpen gehüllt.