Schließlich faßte er den Entschluß, sich sehr vorsichtig nach links zu schieben und zu versuchen, aus der Höhle herauszukriechen. Vielleicht schlief die Kreatur – und außerdem war es die einzige Möglichkeit. Aber natürlich schaute er nach links, bevor er in diese Richtung kroch. O weh! Auch auf dieser Seite war eine Drachenklaue zu sehen.
Niemand wird es Eustachius übelnahmen, daß er in diesem Augenblick zu weinen begann. Er war überrascht von der Größe seiner Tränen, als er sie auf den Schatz vor sich tropfen sah. Sie schienen auch eigenartig heiß zu sein – sie dampften!
Aber das Weinen nützte nichts. Er mußte versuchen, zwischen den beiden Drachen hervorzukriechen. Er begann, seinen rechten Arm auszustrecken. Das Vorderbein und die Klaue zu seiner Rechten vollführten genau dieselbe Bewegung. Dann versuchte er es mit dem linken Arm. Das Drachenbein auf dieser Seite bewegte sich ebenfalls.
Zwei Drachen, einer auf jeder Seite, die alles nachmachten, was er tat! Er verlor die Nerven und stürzte einfach los.
Während er aus der Höhle rannte, erklang ein derartiges Klappern und Reiben und Klirren von Goldstücken und ein Mahlen von Steinen, daß er dachte, beide Drachen wären hinter ihm her. Er wagte es nicht, zurückzuschauen. Er rannte zum Teich. Die verkrümmte Gestalt des toten Drachen hätte jedermann zu Tode erschreckt, aber jetzt bemerkte er sie kaum. Er hatte vor, sich ins Wasser zu werfen.
Aber als er am Rand des Teiches ankam, geschahen zwei Dinge. Erstens fiel ihm schlagartig ein, daß er auf allen vieren gerannt war – und warum, in aller Welt, hatte er das getan? Und als er sich über das Wasser beugte, kam es ihm einen Augenblick lang so vor, als hätte ihn aus dem Teich ein zweiter Drache angestarrt. Aber schon einen Augenblick später dämmerte ihm die Wahrheit. Das Drachengesicht im Teich war sein eigenes Spiegelbild. Es gab keinen Zweifeclass="underline" es bewegte sich, wenn er sich bewegte; es öffnete und schloß den Mund, wenn er seinen öffnete und schloß.
Er hatte sich im Schlaf in einen Drachen verwandelt. Er hatte auf einem Drachenschatz geschlafen, mit gierigen, drachenartigen Gedanken im Herzen, und so hatte er sich selbst in einen Drachen verwandelt.
Das erklärte alles. Neben ihm in der Höhle hatten keine Drachen gelegen. Die Klaue zu seiner Rechten und zu seiner Linken waren seine eigenen Klauen gewesen. Die beiden Rauchsäulen waren aus seinen Nasenlöchern gekommen. Und was den Schmerz in seinem linken Arm betraf (oder dem, was einstens sein linker Arm gewesen war), so konnte er jetzt sehen, was da geschehen war, wenn er mit seinem linken Auge zur Seite schielte. Der Armreif, der sehr gut auf den Oberarm eines Jungen gepaßt hatte, war viel zu klein für das dicke, plumpe Vorderbein eines Drachen. Er schnitt tief in das schuppige Fleisch ein, und zu beiden Seiten war er dick geschwollen und pochte. Er zerrte mit seinen Drachenzähnen daran, doch der Armreif ließ sich nicht lösen.
Trotz seiner Schmerzen war das erste Gefühl, welches ihn überkam, das der Erleichterung. Jetzt gab es nichts mehr, wovor er Angst haben mußte. Jetzt war er selbst eine furchterregende Gestalt, und nur noch ein Ritter (und auch nicht jeder) würde es wagen, ihn anzugreifen. Jetzt konnte er Kaspian und Edmund alles heimzahlen …
Aber im gleichen Augenblick, wo er das dachte, wurde ihm klar, daß er das gar nicht wollte. Er wollte ihr Freund sein. Er wollte zu den Menschen zurück, mit ihnen reden und lachen und alles gemeinsam mit ihnen erleben. Er begriff, daß er ein Ungeheuer war, das keinen Zugang zur menschlichen Gesellschaft hatte. Eine furchtbare Einsamkeit überfiel ihn. Er begann zu verstehen, daß die anderen in Wirklichkeit gar keine Scheusale gewesen waren. Er begann sich zu überlegen, ob er selbst der nette Mensch gewesen war, für den er sich immer gehalten hatte. Er sehnte sich nach ihren Stimmen. Jetzt wäre er sogar für ein freundliches Wort von Riepischiep dankbar gewesen.
Nach all diesen Gedanken erhob der arme Drache, der einst Eustachius gewesen war, die Stimme und weinte. Ein mächtiger Drache, der sich unter dem Mond in einem verlassenen Tal die Augen ausweint, ist ein Anblick für sich, und das Geräusch kann man sich kaum vorstellen.
Schließlich entschloß er sich, einen Versuch zu machen, den Weg zurück zur Küste zu finden. Jetzt war ihm klar, daß Kaspian niemals wegsegeln und ihn hier zurücklassen würde. Und er war sicher, daß es ihm irgendwie gelingen würde, den anderen begreiflich zu machen, wer er war.
Er drehte sich um und wollte aus dem Tal klettern. Er begann seine Kletterei mit einem Satz, und mitten im Sprung stellte er fest, daß er flog. Er hatte seine Flügel ganz vergessen und war äußerst überrascht – dies war seit langem die erste angenehme Überraschung. Er erhob sich hoch in die Luft und sah unter sich im Mondlicht unzählige Bergspitzen. Er entdeckte auch die Bucht, die aussah wie eine Silberplatte, die vor Anker liegende »Morgenröte« und die Lagerfeuer, die in den Wäldern neben der Bucht flackerten. Von großer Höhe ließ er sich im Gleitflug hinunterfallen.
Lucy war in tiefem Schlaf versunken, denn sie war bis zur Rückkehr der Suchmannschaft wach geblieben. Kaspian hatte die Suchmannschaft angeführt, und alle waren sehr spät und sehr erschöpft zurückgekommen. Ihre Berichte waren beunruhigend. Sie hatten keine Spur von Eustachius gefunden, aber in einem Tal hatten sie einen toten Drachen gesehen. Sie versuchten, das Beste daraus zu machen, und jeder versicherte jedem, daß es unwahrscheinlich sei, daß es noch weitere Drachen gäbe, und daß ein Drache, der um drei Uhr an diesem Nachmittag tot gewesen war (denn um diese Zeit hatten sie ihn entdeckt), wohl kaum ein paar Stunden vorher einen Menschen umgebracht haben konnte.
»Höchstens er hat dieses kleine Scheusal aufgefressen und ist daran gestorben: an dem würde sich jeder vergiften«, sagte Rhince. Aber das sagte er ganz leise, und keiner hörte es.
Spät in dieser Nacht wurde Lucy wach und sah, daß alle eng beieinander standen und sich flüsternd unterhielten.
»Was ist los?« fragte Lucy.
»Wir dürfen nicht die Nerven verlieren!« sagte Kaspian gerade. »Eben kam ein Drache über die Baumspitzen angeflogen und ist am Strand gelandet. Ja, er liegt unglücklicherweise zwischen uns und dem Schiff. Und Pfeile nützen gar nichts gegen Drachen. Und auch vor Feuer haben sie überhaupt keine Angst.«
»Wenn Eure Majestät es gestattet.« begann Riepischiep.
»Nein, Riepischiep«, sagte der König fest. »Du wirst keinen Zweikampf mit ihm versuchen! Und wenn du nicht versprichst, mir in dieser Angelegenheit zu gehorchen, dann lasse ich dich anbinden! Wir müssen Wache halten, und sobald es hell wird, gehen wir zum Strand hinunter und greifen an. Ich werde den Kampf führen, mit König Edmund zu meiner Rechten und Lord Drinian zu meiner Linken. Weitere Vorbereitungen sind nicht zu treffen. In ein paar Stunden wird es hell. In einer Stunde soll ein Mahl und der Rest des Weines serviert werden! Und achtet darauf, daß alles geräuschlos erledigt wird.«
»Vielleicht geht er wieder weg«, sagte Lucy.
»Das wäre noch schlimmer«, sagte Edmund, »denn dann wissen wir nicht, wo er ist. Wenn sich eine Wespe im Zimmer befindet, möchte ich sie sehen können.«
Der Rest der Nacht war schrecklich. Als das Mahl serviert wurde, stellten viele fest, daß sie keinen Appetit hatten. Endlose Stunden schienen zu verrinnen, bevor die Dunkelheit wich und die Vögel zu zwitschern begannen und die Welt noch kälter und nasser wurde als während der Nacht. Schließlich sagte Kaspian: »Auf, Freunde!«
Sie erhoben sich mit gezogenen Schwertern und formierten sich zu einer geschlossenen Gruppe. Lucy, die Riepischiep auf den Schultern trug, ging in der Mitte. Dies war besser als die endlose Warterei, und alle fühlten sich einander näher als zu gewöhnlichen Zeiten. Dann setzten sie sich in Bewegung. Als sie am Waldrand anlangten, wurde es heller. Und dort auf dem Sand – wie eine riesige Eidechse oder wie ein gelenkiges Krokodil oder wie eine Schlange mit Beinen – lag riesig und schrecklich und bucklig der Drache.