Aber was natürlich über allen wie eine Wolke hing, war das Problem, was sie mit ihrem Drachen tun sollten, wenn sie bereit waren, weiterzusegeln. Sie bemühten sich, in seinem Beisein nicht darüber zu reden, aber er konnte nicht umhin, Bemerkungen mit anzuhören wie: »Würde er der Länge nach auf eine Seite des Verdecks passen? Wir müßten dann die Vorräte unten auf die andere Seite räumen, um sein Gewicht auszugleichen« oder: »Könnte man ihn hinterherziehen?« oder: »Könnte er es wohl schaffen, im Flug mitzuhalten?« und (das war die häufigste Bemerkung): »Aber wie werden wir ihn füttern?« Dem armen Eustachius wurde immer klarer, daß er seit dem Tag, an dem er an Bord gekommen war, eine große Last gewesen war – und jetzt war es sogar noch schlimmer. Und das fraß sich in sein Herz, so, wie der Armreif sich in sein Vorderbein fraß. Er wußte, daß es nur noch schlimmer wurde, wenn er mit seinen großen Zähnen daran riß, aber ab und zu konnte er sich nicht beherrschen, vor allem in heißen Nächten.
Etwa sechs Tage nach ihrer Landung auf der Dracheninsel wachte Edmund eines Morgens schon früh auf. Die Morgendämmerung war gerade erst angebrochen, und so konnte er zwar die Bäume sehen, die zwischen ihm und der Bucht lagen, aber die Bäume hinter ihm waren noch nicht zu erkennen. Beim Aufwachen vermeinte er, ein Geräusch zu hören, deshalb stützte er sich auf einen Ellbogen und schaute sich um. Plötzlich sah er eine Gestalt, die sich an der dem Meer zugewandten Seite des Waldes bewegte. Sofort kam ihm der Gedanke: Ist es eigentlich sicher, daß es hier auf der Insel keine Eingeborenen gibt? Dann dachte er, es sei vielleicht Kaspian – die Gestalt hatte etwa die richtige Größe –, aber dann fiel ihm ein, daß Kaspian neben ihm schlief und sich nicht bewegt hatte. Edmund vergewisserte sich, daß sein Schwert an seinem Platz war, und erhob sich dann, um der Sache nachzugehen.
Leise schlich er zum Waldrand. Die dunkle Gestalt war noch da. Er sah, daß sie für Kaspian zu klein und für Lucy zu groß war. Sie rannte nicht weg. Edmund zog sein Schwert und wollte den Fremden gerade anrufen, als dieser sich umwandte und leise sagte: »Bist du das, Edmund?«
»Ja. Wer bist du?« antwortete dieser.
»Kennst du mich nicht«, fragte der andere. »Ich bin’s – Eustachius.«
»Meine Güte!« rief Edmund. »Tatsächlich. Mein lieber Freund ...«
»Pst«, sagte Eustachius und schwankte, als würde er gleich umfallen.
»Hoppla!« sagte Edmund und hielt ihn fest. »Was ist los? Bist du krank?«
Eustachius schwieg so lange, daß Edmund annahm, er würde ohnmächtig werden. Aber schließlich sagte er: »Es war furchtbar. Du kannst es dir nicht vorstellen ... aber jetzt ist alles in Ordnung. Könnten wir irgendwohin gehen und uns unterhalten? Ich möchte noch nicht mit den anderen zusammentreffen.«
»Ja, natürlich«, sagte Edmund. »Wir können uns auf die Felsen da drüben setzen. Ich bin sehr froh, daß du wieder – hm – wieder normal aussiehst. Du mußt eine schlimme Zeit hinter dir haben.«
Sie gingen zu den Felsen und setzten sich. Sie blickten auf die Bucht, während der Himmel heller und heller wurde und die Sterne bis auf einen sehr hellen und tief am Horizont stehenden Stern verschwanden.
»Ich werde dir nicht erzählen, wie ich zu einem – einem Drachen wurde, ehe die anderen dabei sind und ich es ein für alle Male hinter mich bringen kann«, sagte Eustachius. »Übrigens wußte ich nicht einmal, daß ich ein Drache war, bis ich das Wort von euch gehört habe, als ich an jenem Morgen hier auftauchte. Ich wollte dir erzählen, wie es kam, daß ich mich wieder zurückverwandelt habe.«
»Schieß los!« sagte Edmund.
»Also – gestern nacht war ich so unglücklich wie nie zuvor. Und dieser fürchterliche Armreif tat so schrecklich weh ...«
»Ist dein Arm in Ordnung?«
Eustachius lachte – sein Lachen war ganz anders als früher – und zog den Armreif mühelos vom Arm. »Da ist er«, sagte er. »Und meinetwegen kann ihn jeder haben, der ihn haben will. Tja, wie ich sagte, lag ich wach und überlegte, was wohl aus mir werden würde. Und dann – aber vielleicht war es nur ein Traum. Ich weiß es nicht.«
»Rede weiter«, forderte Edmund ihn ungeduldig auf.
»Also ich schaute auf und sah etwas, was ich am allerwenigsten erwartet hätte – einen riesigen Löwen, der langsam auf mich zukam. Und das eigenartigste war, daß gestern nacht kein Mond schien, und trotzdem war der Löwe von Mondlicht umgeben. Er kam näher und näher. Ich hatte schreckliche Angst. Vielleicht denkst du, ich, als Drache, hätte ihn ohne weiteres überwältigen können. Aber es war nicht diese Art von Angst. Ich hatte keine Angst davor, er könne mich auffressen. Ich hatte einfach vor dem Löwen an sich Angst – wenn du das verstehen kannst. Also, er kam nahe zu mir her und blickte mir direkt in die Augen. Ich machte die Augen fest zu. Aber das nützte nichts, denn er befahl mir, ihm zu folgen.«
»Willst du damit sagen, daß er geredet hat?«
»Ich weiß nicht. Jetzt, wo du es erwähnst, glaube ich nicht, daß er geredet hat. Aber trotzdem hat er mir befohlen, mitzukommen. Und ich wußte, daß ich tun mußte, was er mir befahl, deshalb stand ich auf und folgte ihm. Und er führte mich weit in die Berge. Und über dem Löwen und um ihn herum, wohin er sich auch wandte, hing dieses Mondlicht. Schließlich kamen wir an die Spitze eines Berges, den ich noch nie gesehen hatte. Oben auf diesem Berg war ein Garten – mit Bäumen und Früchten und allem möglichen. In der Mitte des Gartens war eine Quelle.
Ich wußte, daß es eine Quelle war, weil man am Grund das Wasser hervorsprudeln sah, aber sie war viel größer, als Quellen sonst sind. Sie war wie ein sehr großes rundes Bad, zu dem Marmorstufen hinunterführten. Das Wasser war glasklar, und ich dachte, wenn ich hineingehen und baden würde, dann ginge der Schmerz in meinem Bein vielleicht ein wenig weg. Aber der Löwe sagte mir, ich müsse mich zuerst ausziehen. Ich weiß nicht, ob er die Worte aussprach oder nicht.
Ich wollte gerade sagen, ich könne mich nicht ausziehen, weil ich keine Kleider anhätte, als mir plötzlich einfiel, daß Drachen schlangenartige Lebewesen sind und daß Schlangen ihre Haut abwerfen können. Natürlich, dachte ich, das ist es, was der Löwe gemeint hat. Deshalb fing ich an, mich zu kratzen, und überall begannen die Schuppen abzugehen. Und dann kratzte ich ein wenig tiefer, und statt der Schuppen ging plötzlich die ganze Haut ab, wie nach einer Krankheit oder wie bei einer Banane. Nach ein oder zwei Minuten stieg ich einfach aus der Haut heraus. Ich konnte sie neben mir liegen sehen. Sie sah ziemlich ekelhaft aus. Es war ein herrliches Gefühl. Ich stieg hinunter in die Quelle, um zu baden.
Aber gerade als ich meine Füße ins Wasser stellte, blickte ich nach unten und sah, daß sie so hart und rauh und faltig und schuppig waren wie zuvor. Oh, das macht nichts, sagte ich mir. Das bedeutet nur, daß ich darunter noch einen kleineren Anzug anhabe und daß ich den auch noch ausziehen muß. So kratzte und riß ich also noch einmal, und auch diese zweite Haut ging so ausgezeichnet ab. Ich stieg heraus und legte sie neben die andere und ging zur Quelle hinunter zu meinem Bad.
Aber genau dasselbe passierte noch einmal. Und ich dachte mir, meine Güte, wie viele Häute muß ich wohl noch ausziehen? Denn ich konnte es kaum erwarten, mir die Beine zu baden. Deshalb kratzte ich ein drittes Mal und riß eine dritte Haut ab, genau wie die beiden anderen, und stieg aus ihr heraus. Aber als ich mich im Wasser anschaute, wußte ich, daß es keinen Zweck gehabt hatte.