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»Und eben ist einer davon verschwunden«, rief Lucy.

»Ja, und da kommt gerade ein anderer«, sagte Edmund.

»Er kommt näher!« rief Eustachius.

»Verdammt!« stieß Kaspian hervor. »Das ganze Ding kommt in unsere Richtung!«

»Und es bewegt sich um einiges schneller, als wir segeln können, Herr«, fügte Drinian hinzu. »Es wird uns in einer Minute eingeholt haben.«

Sie hielten alle den Atem an, denn es ist gar nicht schön, wenn man von etwas Unbekanntem verfolgt wird, sei es nun auf dem Land oder auf dem Meer. Aber es war etwas viel Schrecklicheres, als sie angenommen hatten. Plötzlich, nur einen Heuschreckensprung vom Backbord entfernt, erhob sich ein abscheulicher Kopf aus dem Meer. Er war grün und zinnoberrot mit lila Flecken – außer an den mit Schalentieren bedeckten Stellen –, und er hatte die Form eines Pferdekopfes; allerdings fehlten die Ohren. Er hatte riesige Augen, Augen, die dafür geschaffen waren, die dunklen Tiefen des Ozeans zu durchdringen, und ein offenes Maul mit einer doppelten Reihe scharfer Fischzähne. Der Kopf saß auf einem riesigen Nacken – zumindest dachten sie das zuerst. Doch als dieser weiter und weiter hervorkam, wurde ihnen klar, daß dies nicht der Nacken, sondern der Körper war und daß sie das sahen, was viele Leute törichterweise gerne gesehen hätten – die große Seeschlange. Die Krümmungen ihres riesigen Schwanzes, die sich hier und da über die Wasseroberfläche erhoben, konnte man bis weit in die Ferne sehen. Und jetzt überragte ihr Kopf schon den Mast.

Alle Männer rannten zu ihren Waffen. Doch es war zwecklos – gegen die Seeschlange konnten sie nichts ausrichten. »Schießt! Schießt!« rief der oberste Pfeilschütze, und einige gehorchten, doch die Pfeile prallten an der Haut der Seeschlange ab, als wäre sie aus Stahl. Dann standen alle eine schreckliche Minute lang reglos da, starrten zu den Augen und dem Maul des Ungeheuers empor und fragten sich bange, wo es sich wohl herabstürzen mochte.

Aber es stürzte sich nicht herab. Am Mast, in der Höhe der Rah, schoß sein Kopf über das Schiff. Jetzt ragte er genau neben der Kampfplattform auf. Die Schlange reckte sich immer weiter vorwärts, bis ihr Kopf schließlich über der Steuerbordwand schwebte. Dann bewegte sich ihr Kopf wieder nach unten – nicht auf das bevölkerte Deck zu, sondern ins Wasser. Dadurch ruhte das ganze Schiff unter dem nach oben gewölbten Schlangenleib. Und fast sofort begann dieser Bogen kleiner zu werden: auf der Steuerbordseite lag die Seeschlange schon fast auf der Bordwand der »Morgenröte« auf.

Eustachius (der sich wirklich sehr angestrengt hatte, sich zu bessern, bis ihn der Regen und das Schachspielen wieder in sein altes Verhalten zurückgeworfen hatten) zeigte jetzt die erste mutige Tat seines Lebens. Er trug ein Schwert, das ihm Kaspian geliehen hatte. Sobald der Körper der Schlange auf der Steuerbordseite in Reichweite war, sprang er auf die Bordwand und begann mit aller Kraft, auf den Schlangenkörper einzuhacken. Es stimmt zwar, daß er dadurch nichts erreichte, abgesehen davon, daß er Kaspians zweitbestes Schwert ruinierte, aber für einen Anfanger war es immerhin eine schöne Leistung.

Die anderen hätten ihm beigestanden, wenn nicht Riepischiep in diesem Moment gerufen hätte: »Nicht kämpfen! Schieben!« Es war so ungewöhnlich, daß die Maus befahl, nicht zu kämpfen, daß sich ihr selbst in diesem schrecklichen Moment alle Augen zuwandten. Und als Riepischiep vor der Schlange auf die Reling sprang und sich mit seinem kleinen pelzigen Rücken gegen den riesigen, schuppigen und schlüpfrigen Körper stemmte und mit aller Kraft preßte, begriffen viele, was er meinte, und verteilten sich auf beiden Seiten des Schiffes, um das gleiche zu tun. Und als einen Augenblick später der Kopf der Schlange wieder erschien – diesmal an der Backbordseite und mit dem Rücken zu ihnen –, da verstanden es alle.

Das Ungeheuer hatte sich zu einer Schleife um die »Morgenröte« gelegt und begann jetzt, die Schleife festzuziehen.

Sobald die Schleife festgezogen war – schwupp –, würde das Schiff, zu hundert Einzelteilen zerbrochen, dahintreiben, und die Seeschlange könnte einen nach dem anderen aus dem Wasser fischen. Die einzige Möglichkeit war, die Schleife nach hinten zu schieben, bis sie über das Heck glitt; oder – so könnte man es auch ausdrücken – das Schiff nach vorne aus der Schleife herauszuschieben.

Allein hätte Riepischiep natürlich genausogut versuchen können, eine Kathedrale anzuheben, aber er hatte sich in seiner Anstrengung schon fast umgebracht, bevor ihn die anderen zur Seite stießen. Schon bald stand die ganze Schiffsmannschaft außer Lucy und der Maus (die war nämlich bewußtlos) in zwei langen Reihen an den beiden Bordwänden entlang. Jeder Mann stand mit der Brust gegen den Rücken seines Vordermannes gepreßt, so daß die ganze Last auf dem letzten Mann ruhte. Alle schoben um ihr Leben. Ein paar schreckliche Sekunden lang (die ihnen wie Stunden vorkamen) schien nichts zu geschehen. Gelenke knackten, Schweiß tropfte, keuchend wurde der Atem ausgestoßen. Dann spürten sie, daß das Schiff sich bewegte. Sie sahen, daß die Schlangenschleife weiter vom Mast entfernt war als zuvor. Aber sie sahen auch, daß die Schleife kleiner geworden war. Und jetzt drohte eine weitere Gefahr. Konnten sie die Schleife über das Achterdeck hinwegschieben, oder war sie schon zu eng? Ja. Sie paßte gerade noch darüber. Sie ruhte auf dem Geländer des Achterdecks. Ein Dutzend Männer oder mehr stürzten auf das Achterdeck. Jetzt ging es viel besser. Der Körper der Seeschlange lag nun so tief, daß die Männer sich nebeneinander aufstellen und Seite an Seite schieben konnten. Sie begannen Hoffnung zu schöpfen, bis ihnen das hochgezogene geschnitzte Heck, der Drachenschwanz, einfiel. Es war völlig unmöglich, das Ungeheuer darüber hinwegzuschieben.

»Eine Axt!« schrie Kaspian heiser. »Und weiterschieben!«

Lucy, die auf dem Hauptdeck stand und zum Achterdeck hinaufschaute, hörte ihn. Sie wußte, wo alles verstaut war. In Sekundenschnelle war sie unter Deck, ergriff die Axt und raste die Leiter zum Achterdeck hinauf. Aber gerade als sie oben ankam, erklang ein lautes Krachen wie von einem umfallenden Baum. Das Schiff schwankte und schoß vorwärts. Denn im selben Augenblick war der ganze geschnitzte Teil des Hecks abgebrochen, und das Schiff war frei – entweder weil sie die Seeschlange so fest geschoben hatten oder weil diese törichterweise beschlossen hatte, die Schleife zuzuziehen.

Die anderen waren zu erschöpft, um zu sehen, was Lucy sah. Dort, ein paar Meter hinter dem Schiff, wurde die Schleife des Seeschlangenkörpers immer kleiner und verschwand im aufspritzenden Wasser. Lucy behauptete hinterher, sie hätte auf dem Gesicht des Ungeheuers einen Ausdruck von idiotischer Befriedigung gesehen. (Aber natürlich war sie in diesem Augenblick sehr aufgeregt, und vielleicht bildete sie sich das nur ein.) Doch es ist sicher, daß die Seeschlange ein sehr dummes Tier war, denn anstatt das Schiff zu verfolgen, drehte sie den Kopf nach hinten und beschnupperte ihren ganzen Körper, als erwarte sie, dort das Wrack der »Morgenröte« zu finden. Aber die »Morgenröte« segelte vor einem frischen Wind und war schon weit weg. Die Männer lagen und saßen keuchend und stöhnend an Deck, bis sie in der Lage waren, über das ganze Abenteuer zu reden und dann auch darüber zu lachen. Und als ein wenig Rum verteilt worden war, erklang sogar ein Hurraruf. Alle lobten den Mut von Eustachius (obwohl er nichts genutzt hatte) und den von Riepischiep.

Danach segelten sie drei Tage lang weiter, ohne etwas zu sehen außer Meer und Himmel. Am vierten Tag drehte sich der Wind nach Norden, und die Wellen wurden höher. Bis zum Nachmittag war der Wind schon fast zum Sturm geworden. Aber zu dieser Zeit sichteten sie Land in Richtung Backbord.

»Wenn Ihr gestattet, Herr«, sagte Drinian, »werden wir versuchen, in den Windschatten der Insel zu rudern und dort vor Anker zu liegen, bis der Sturm vorbei ist.«

Kaspian stimmte zu. Aber sie mußten mühsam gegen den Sturm rudern, und so erreichten sie die Insel erst am Abend. Im letzten Licht des Tages steuerten sie in einen natürlichen Hafen und ankerten. Doch in dieser Nacht ging keiner an Land. Am Morgen fanden sie sich in der grünen Bucht einer zerklüfteten, einsamen Insel, die sich zu einem felsigen Gipfel erhob. Aus dem windigen Norden hinter dem Gipfel wurden rasch Wolken angetrieben. Sie ließen das Boot ab und beluden es mit all den Wasserfässern, die inzwischen leer waren.