»Zurück! Weg vom Wasser! Alle! Sofort!«
Sie gehorchten und starrten ihn an.
»Seht her!« sagte Edmund. »Schaut euch die Spitzen meiner Stiefel an!«
»Sie sehen ein bißchen gelblich aus«, begann Eustachius.
»Sie sind ganz und gar golden!« unterbrach Edmund.
»Schaut sie euch an! Befühlt sie! Das Leder hat sich schon abgelöst. Und sie sind so schwer wie Blei.«
»Bei Aslan!« rief Kaspian. »Du willst doch wohl nicht sagen ...«
»Doch, das will ich«, sagte Edmund. »Das Wasser verwandelt die Dinge in Gold. Es hat den Speer in Gold verwandelt, deshalb wurde er so schwer. Es ist lediglich gegen meine Füße geschwappt (glücklicherweise war ich nicht barfuß!), und schon haben sich die Stiefelspitzen in Gold verwandelt. Und dieser arme Kerl am Grund – na ja, ihr könnt euch ja vorstellen, was mit ihm geschehen ist.«
»Also ist es gar keine Statue«, sagte Lucy leise.
»Nein. Jetzt ist alles klar. Er war an einem heißen Tag hier. Er hat sich oben auf den Felsen ausgezogen – dort, wo wir gesessen haben. Die Kleider sind zerfallen, oder die Vögel haben sie mitgenommen, um ihr Nest damit auszupolstern; die Rüstung ist noch da. Dann ist er ins Wasser gesprungen und ...«
»Hör auf!« sagte Lucy. »Wie schrecklich!«
»Um ein Haar hätte es uns auch erwischt«, sagte Edmund.
»Sehr richtig«, meinte Riepischiep. »Jedermanns Finger, jedermanns Schnurrbart oder jedermanns Schwanz hätte jederzeit mit dem Wasser in Berührung kommen können.«
»Wir können es trotzdem einmal nachprüfen«, schlug Kaspian vor. Er bückte sich und riß ein Büschel Heidekraut aus. Dann kniete er sich sehr vorsichtig an den Teich und tauchte es ein. Das Heidekraut, das er herauszog, war aus reinstem Gold und so schwer und so weich wie Blei.
»Der König, dem diese Insel gehörte, wäre schon bald der reichste König dieser Welt«, sagte Kaspian langsam, und sein Gesicht wurde ganz rot, während er sprach. »Ich erkläre diese Insel hiermit als zu Narnia gehörig. Sie soll den Namen Goldwasserinsel erhalten. Ich verlange absolutes Stillschweigen von euch. Keiner darf davon wissen.
Nicht einmal Drinian – jede Zuwiderhandlung wird mit dem Tode bestraft!«
»Wem sagst du das eigentlich?« fragte Edmund. »Ich bin keiner deiner Untertanen. Eher ist es umgekehrt. Ich bin einer der vier Könige von Narnia, und du stehst unter dem Eid meines Bruders, des höchsten Königs.«
»So weit ist es also gekommen, König Edmund!« sagte Kaspian und legte die Hand auf den Griff seines Schwertes.
»Oh, hört auf, alle beide!« rief Lucy. »Das ist das Schlimmste, wenn man mit Jungen etwas unternimmt. Ihr seid angeberische und brutale Idioten – oooh! ...« Ihre Stimme verwandelte sich in ein Keuchen. Und alle anderen sahen ebenfalls, was sie sah.
Über dem grauen Berg vor ihnen – er war grau, weil das Heidekraut noch nicht blühte –, geräuschlos und ohne sie anzusehen und so strahlend, als wäre er in leuchtendes Sonnenlicht gebadet, obwohl die Sonne untergegangen war, ging langsam der größte Löwe entlang, den je ein menschliches Auge erblickt hat. Später sagte Lucy: »Er war so groß wie ein Elefant«, und ein anderes Mal sagte sie nur: »So groß wie ein Kutschergaul.« Aber auf die Größe kam es nicht an. Niemand wagte zu fragen, wer das gewesen sein mochte. Sie wußten, daß es Aslan gewesen war.
Keiner von ihnen sah, wohin er ging. Sie blickten einander an wie Leute, die eben aus tiefem Schlaf erwachen.
»Worüber haben wir geredet?« fragte Kaspian. »Habe ich mich furchtbar schlecht benommen?«
»Herr«, sagte Riepischiep. »Dies ist ein Ort, auf dem ein Fluch liegt. Laßt uns sofort an Bord zurückkehren. Und wenn mir die Ehre zukäme, dieser Insel einen Namen zu geben, dann würde ich sie Todeswasserinsel nennen.«
»Das scheint mir ein sehr guter Name zu sein, Riep«, sagte Kaspian. »Obwohl ich nicht weiß, warum, wenn ich mir’s recht überlege. Aber das Wetter scheint sich zu beruhigen, und ich nehme an, daß Drinian gerne aufbrechen würde. Wir werden ihm eine Menge zu erzählen haben!«
Aber in Wirklichkeit hatten sie nicht viel zu erzählen, denn ihre Erinnerung an die letzte halbe Stunde war ganz verschwommen.
»Ihre Majestäten schienen alle ein wenig behext zu sein, als sie an Bord kamen«, sagte Drinian ein paar Stunden später zu Rhince, als die »Morgenröte« wieder unter Segel stand und die Todeswasserinsel hinter dem Horizont verschwunden war. »Irgend etwas ist ihnen dort zugestoßen. Das einzige, was ich begriffen habe, ist, daß sie den Körper von einem dieser Lords gefunden haben, die wir suchen.«
»Was Ihr nicht sagt, Kapitän«, antwortete Rhince. »Das macht also drei. Jetzt sind es nur noch vier. Wenn wir mit dieser Geschwindigkeit weitermachen, dann wäre es möglich, daß wir schon bald nach Neujahr zu Hause sind. Und das trifft sich gut. Mein Tabak wird langsam ein wenig knapp! Gute Nacht, Herr.«
9. Die Insel der Stimmen
Jetzt begann der Wind, der so lange von Nordwesten gekommen war, aus Westen zu blasen, und jeden Morgen, wenn die Sonne aus dem Meer aufstieg, stand der geschwungene Bug der »Morgenröte« genau vor der Sonne. Manche meinten, die Sonne sähe größer aus als in Narnia, aber manche waren anderer Ansicht. Und sie segelten und segelten vor einem sanften, aber beständigen Wind und sahen weder Fische noch Möwen noch Schiffe noch Land. Die Vorräte wurden wieder knapp, und in ihrem Herzen begann sich der Gedanke zu regen, daß sie vielleicht in einem Meer angelangt waren, das sich endlos weit erstreckte. Aber als der allerletzte Tag anbrach, an dem sie es riskieren konnten, ihre Reise in Richtung Osten fortzusetzen, tauchte genau vor ihnen ein flaches Eiland auf, das wie eine Wolke dalag.
Gegen Nachmittag liefen sie in eine breite Bucht ein. Die Insel war völlig andersartig als alles, was sie bisher gesehen hatten. Als sie den sandigen Strand überquert hatten, fanden sie alles still und leer vor, als wäre die Insel unbewohnt. Doch vor ihnen lagen ebene Rasenflächen, deren Gras so weich und so kurz war wie das eines englischen Herrschaftshauses mit zehn Gärtnern. Die vielen Bäume standen alle weit voneinander, und weder abgebrochene Äste noch Blätter lagen am Boden. Ab und zu gurrte eine Taube, aber sonst war kein Geräusch zu hören.
Schließlich kamen sie zu einem langen geraden, sandigen Pfad, auf dem kein einziges Unkraut wuchs und der rechts und links von Bäumen gesäumt war. Weit vor ihnen am Ende der Allee sahen sie ein Haus – es war sehr lang und grau und lag still in der Nachmittagssonne da.
Gleich nachdem sie den Pfad betreten hatten, bemerkte Lucy, daß sie einen Stein im Schuh hatte. In dieser unbekannten Gegend wäre es vielleicht klüger gewesen, die anderen zu bitten, auf sie zu warten, bis sie den Stein herausgeholt hatte. Aber sie tat es nicht. Sie ließ die anderen vorausgehen und setzte sich nieder, um den Schuh auszuziehen. Im Schnürsenkel war ein Knoten.
Bevor sie den Knoten gelöst hatte, waren die anderen schon ein gutes Stück vor ihr. Als sie den Stein herausgenommen und den Schuh wieder angezogen hatte, konnte sie ihre Freunde schon nicht mehr hören. Aber statt dessen hörte sie etwas anderes. Dieses Geräusch kam nicht vom Haus her.
Sie hörte ein Stampfen. Es klang so, als würden ein Dutzend starke Arbeiter mit großen, hölzernen Schlegeln so fest wie möglich auf den Boden schlagen. Und das Geräusch kam schnell näher. Sie saß mit dem Rücken gegen einen Baum gelehnt da, und weil sich der Baum zum Hinaufklettern nicht eignete, blieb ihr wirklich nichts anderes übrig, als mucksmäuschenstill gegen den Baum gepreßt sitzen zu bleiben und zu hoffen, man möge sie nicht bemerken.
Bumm, bumm, bumm ... und was immer es auch sein mochte, es mußte jetzt sehr nah sein, denn sie spürte, wie unter ihr der Boden bebte. Aber sie konnte nichts sehen. Sie hatte das Gefühl, das Ding – oder die Dinge – müßten dicht hinter ihr sein. Aber dann erklang das Stampfen genau vor ihr auf dem Pfad. Jetzt sah sie auch, wie der Sand aufstob, als hätte man ihm einen schweren Schlag versetzt. Aber sie konnte nichts sehen, was den Schlag ausgeführt haben könnte. Dann versammelten sich die Stampfgeräusche etwa fünf Meter vor ihr und hörten plötzlich auf. Und dann erklang eine Stimme.