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Lucy konnte sich von dieser ersten Seite kaum losreißen, aber als sie umblätterte, entdeckte sie, daß die nächste Seite genauso interessant war. Aber ich muß weiterblättern, dachte sie. So blätterte sie etwa dreißig Seiten weiter, und wenn sie sich alles gemerkt hätte, dann hätte sie dort lernen können, wie man einen vergrabenen Schatz findet, wie man sich an Dinge erinnert, die man vergessen hat, wie man Dinge vergißt, die man vergessen will, woher man weiß, ob jemand die Wahrheit spricht, wie man Wind, Nebel, Schnee, Hagel oder Regen herbeirufen oder verhüten kann, wie man einen Zauberschlaf einleitet oder wie man einem Mann einen Eselskopf anhext (so, wie das dem armen Bottom in Shakespeares »Sommernachtstraum« passiert ist). Und je länger sie las, desto schöner und wirklicher wurden die Bilder. Dann kam sie zu einer Seite, die voll war mit Bildern, daß man die Schrift kaum sehen konnte. Aber die ersten Worte konnte sie lesen. Da hieß es: Ein unfehlbarer Zauberspruch, der diejenige, die ihn spricht, unendlich schön macht. Lucy betrachtete die Bilder mit der Nase am Papier. Vorher hatten sie verworren und undeutlich ausgesehen, doch jetzt konnte Lucy sie plötzlich klar erkennen. Auf dem ersten war ein Mädchen abgebildet, das vor einem Lesetisch stand und in einem riesigen Buch las. Und das Mädchen war genauso angezogen wie Lucy. Auf dem nächsten Bild stand Lucy (denn das Mädchen auf dem Bild war sie selbst) mit offenem Mund und einem ziemlich schrecklichen Ausdruck auf dem Gesicht da und sang oder sagte etwas. Auf dem dritten Bild war sie unendlich schön geworden. Wenn man bedenkt, wie klein das Bild zuerst ausgesehen hatte, war es eigenartig, daß die Lucy auf dem Bild jetzt genauso groß zu sein schien wie die wirkliche Lucy; und sie sahen sich gegenseitig in die Augen, und die wirkliche Lucy schaute nach ein paar Minuten weg, weil sie von der Schönheit der anderen Lucy geblendet war, obwohl sie in diesem wunderschönen Gesicht noch immer eine gewisse Ähnlichkeit mit sich selbst entdeckte. Und jetzt erschienen ihr die Bilder klar und rasch hintereinander. Sie sah sich auf einem hohen Thron bei einem Wettbewerb in Kalormen, und alle Könige der Welt kämpften um sie, weil sie so schön war. Dann wandelten sich die Wettbewerbe zu Kriegen, und ganz Narnia und Archenland, Telmar und Kalormen, Galma und Terebinthia lagen kahl durch den Zorn der Könige und Grafen und Herzöge, die um ihre Gunst kämpften. Dann wechselte das Bild, und die noch immer unendlich schöne Lucy war wieder in England. Und Suse (die immer als die Schönheit der Familie gegolten hatte) kam aus Amerika zurück. Die Suse auf dem Bild sah genauso aus wie die wirkliche Suse, nur unscheinbarer und mit einem häßlichen Ausdruck auf dem Gesicht. Suse war eifersüchtig auf die strahlende Schönheit Lucys, aber das machte gar nichts, weil sich jetzt niemand mehr für Suse interessierte.

Ich werde den Zauberspruch sprechen, dachte Lucy. Es ist mir egal. Ich werde es tun. Sie dachte es ist mir egal, weil sie das starke Gefühl hatte, daß sie es nicht tun durfte.

Aber als sie wieder auf die ersten Worte des Zauberspruchs schaute, da sah sie mitten in der Schrift an einer Stelle, wo vorher ganz sicher kein Bild gewesen war, das große Gesicht eines Löwen, des Löwen, das Gesicht Aslans, das ihr entgegenstarrte. Es war aus derart strahlendem Gold, daß sie dachte, es bewege sich aus der Buchseite heraus auf sie zu. Tatsächlich war sie sich hinterher nie ganz sicher, ob es sich nicht doch ein wenig bewegt hatte. Auf jeden Fall kannte sie den Ausdruck auf dem Gesicht sehr gut. Der Löwe knurrte, und man konnte fast alle Zähne sehen. Sie bekam furchtbare Angst und blätterte sofort um.

Ein wenig später stieß sie auf einen Zauberspruch, der einem verriet, was die anderen von einem dachten. Lucy hätte den anderen Zauberspruch – der einen unendlich schön machte – furchtbar gerne ausprobiert. Deshalb hatte sie das Gefühl, sie müsse als Entschädigung dafür, daß sie den anderen nicht gesagt hatte, wenigstens diesen Spruch ausprobieren. Sehr schnell, damit sie es sich nicht noch einmal anders überlegte, sprach sie die Worte (aber nichts kann mich dazu bringen, euch den Spruch zu verraten). Dann wartete sie darauf, daß etwas passierte.

Da nichts geschah, begann sie, die Bilder zu betrachten. Und sofort sah sie etwas, was sie zuallerletzt erwartet hätte – ein Bild eines Dritte-Klasse-Abteils im Zug, in dem zwei Schulmädchen saßen. Sie erkannte sie sofort. Es waren ihre Schulfreundinnen Marjorie und Anne. Nur war es jetzt viel mehr als nur ein Bild. Es lebte. Sie konnte sehen, wie die Telegrafenmasten vor dem Fenster vorbeiflogen. Sie sah, daß die beiden Mädchen lachten und redeten. Nach und nach (wie bei einem Radio, das warmläuft) konnte sie hören, was sie sagten.

»Werde ich dich in diesem Schuljahr ab und zu sehen?« fragte Anne. »Oder bist du noch immer so begeistert von dieser Lucy?«

»Ich weiß nicht, was du mit begeistert meinst«, antwortete Marjorie.

»O doch, das weißt du«, sagte Anne. »Im letzten Schuljahr warst du ganz verrückt nach ihr.«

»Nein, das war ich nicht«, protestierte Marjorie. »So blöde bin ich nicht! Sie ist ja auf ihre Art ganz nett. Aber gegen Ende des Jahres hatte ich ziemlich genug von ihr.«

»Dazu werde ich dir keine Gelegenheit mehr geben!« rief Lucy. »Du falsches Biest!« Aber der Klang ihrer eigenen Stimme erinnerte sie lediglich daran, daß sie mit einem Bild sprach und daß die richtige Marjorie weit weg in einer anderen Welt war.

Also, dachte Lucy, das hätte ich nicht von ihr erwartet! Und ich habe so viel für sie getan im letzten Schuljahr und habe zu ihr gehalten, wie das nicht viele von den anderen Mädchen getan hätten. Und das weiß sie auch! Und jetzt sagt sie so etwas – ausgerechnet zu Anne! Ich frage mich, ob alle meine Freundinnen so sind. Da sind noch viele andere Bilder. Nein, ich werde nicht mehr hinschauen. Nein, nein – und mit großer Anstrengung blätterte sie um, aber vorher war noch eine riesige Zornesträne auf die Seite getropft.

Auf der nächsten Seite kam sie zu einem Zauberspruch Zur Belebung des Geistes. Hier gab es weniger Bilder zu sehen, aber die wenigen waren einfach wunderschön. Und das, was Lucy las, war eher wie eine Geschichte als wie ein Zauberspruch. Die Geschichte erstreckte sich über drei Seiten, und bevor sie am Ende der Seite angelangt war, hatte sie vergessen, daß sie las. Sie erlebte die Geschichte, als geschähe sie in Wirklichkeit, und all die Bilder waren ebenfalls wirklich. Als sie auf der dritten Seite angelangt war und zu Ende gelesen hatte, dachte sie: Das ist die schönste Geschichte, die ich jemals gelesen habe, oder die ich jemals lesen werde. Oh, ich wollte, ich hätte zehn Jahre lang weiterlesen können. Zumindest will ich sie noch einmal lesen.

Aber hier begann die Zauberkraft des Buches zu wirken. Man konnte nicht zurückblättern. Die rechten Seiten konnte man umblättern; aber die linken Seiten nicht.

O wie schade! dachte Lucy. Ich hätte sie so gerne noch einmal gelesen. Na ja, jedenfalls will ich sie mir merken. Sie handelte von ... von ... o je, es verblaßt alles! Und selbst der Teil auf dieser letzten Seite verschwindet! Das ist ein sehr seltsames Buch. Wie kann es nur sein, daß ich die Geschichte vergessen habe? Sie handelte von einem Becher und einem Schwert und einem Baum und einem grünen Berg, soviel weiß ich noch. Aber an den Rest kann ich mich nicht mehr erinnern. Was soll ich bloß machen?

Aber es fiel ihr nie mehr ein. Seit jenem Tag empfand Lucy jedesmal ein Glücksgefühl, wenn sie etwas erlebte, was sie an diese vergessene Geschichte im Buch des Zauberers erinnerte.