Sie blätterte um, und zu ihrer Überraschung waren auf dieser Seite überhaupt keine Bilder. Doch die ersten Worte lauteten: Ein Zauberspruch, um unsichtbare Dinge sichtbar zu machen. Sie las ihn durch, um sich mit den schwierigen Wörtern vertraut zu machen, dann sagte sie ihn laut vor sich hin. Sie wußte sofort, daß er wirkte, denn während sie sprach, wurden die Großbuchstaben oben auf der Seite farbig, und am Rand tauchten die Bilder auf. Es war, wie wenn etwas, was mit unsichtbarer Tinte geschrieben wurde, nach und nach sichtbar wird. Aber statt die Farbe von Zitronensaft anzunehmen (das ist die einfachste unsichtbare Tinte), wurde hier alles golden und blau und dunkelrot. Es waren eigenartige Bilder, und sie enthielten viele Gestalten, die Lucy nicht allzusehr gefielen. Und dann dachte sie: Ich glaube, ich habe alles sichtbar gemacht, nicht nur die Stampfer. An einem Ort wie hier gibt es ja vielleicht noch viele andere unsichtbare Dinge. Ich bin nicht sicher, daß ich sie alle sehen will.
In diesem Augenblick hörte sie sanfte, schwere Schritte auf dem Korridor hinter sich; und natürlich erinnerte sie sich daran, daß man ihr gesagt hatte, der Zauberer liefe immer auf bloßen Füßen herum und mache nicht mehr Geräusche als eine Katze. Es ist immer besser, sich umzudrehen, statt sich von hinten anschleichen zu lassen, und das tat Lucy. Dann leuchtete ihr Gesicht auf, und einen Moment lang (aber das wußte sie natürlich nicht) sah sie fast so schön aus wie die andere Lucy auf dem Bild, und mit einem kleinen Aufschrei des Entzückens und mit ausgestreckten Armen rannte sie vorwärts. Denn dort in der Tür stand Aslan selbst, der Löwe, der höchste aller Könige. Und er war fest und wirklich und warm, und er ließ es zu, daß Lucy ihn küßte und sich in seiner schimmernden Mähne vergrub. Und an dem leisen erdbebenartigen Geräusch, das aus seinem Innern kam, meinte Lucy sogar zu spüren, daß er schnurrte.
»O Aslan«, sagte sie. »Es ist lieb von dir, daß du gekommen bist.«
»Ich war die ganze Zeit hier«, antwortete er. »Aber du hast mich eben erst sichtbar gemacht.«
»Aslan!« meinte Lucy fast ein wenig vorwurfsvoll. »Treibe keine Scherze mit mir. Als ob ich dich sichtbar machen könnte!«
»Doch, das tatest du«, sagte Aslan. »Glaubst du denn nicht, daß ich meinen eigenen Regeln gehorche?«
Nach einer kleinen Pause redete er weiter. »Kind«, sagte er. »Ich glaube, du hast gelauscht.«
»Gelauscht?«
»Du hast gehört, was deine beiden Schulfreundinnen über dich gesagt haben.«
»Oh, das meinst du? Ich hätte nie gedacht, daß das Lauschen war, Aslan. War das nicht Zauberei?«
»Wenn man anderen Leuten durch Zauberei nachspioniert, ist das genauso, wie wenn man ihnen sonstwie nachspioniert. Und du hast deine Freundin falsch eingeschätzt. Sie ist schwach, aber sie liebt dich. Sie hatte Angst vor dem älteren Mädchen und hat deshalb etwas gesagt, was gar nicht stimmt.«
»Ich glaube nicht, daß ich jemals vergessen werde, was sie über mich gesagt hat.«
»Nein, das wirst du nicht.«
»O je«, sagte Lucy. »Habe ich jetzt alles verdorben? Meinst du, wir wären weiterhin Freundinnen geblieben, wenn das nicht passiert wäre – wirklich gute Freundinnen, vielleicht fürs ganze Leben –, und daß es jetzt nicht mehr möglich ist?«
»Kind«, sagte Aslan. »Habe ich dir nicht schon einmal erklärt, daß niemand jemals erfährt, was passiert wäre!«
»Doch, Aslan, das hast du«, sagte Lucy. »Es tut mir leid. Aber bitte ...«
»Rede weiter, mein liebes Herz!«
»Werde ich jemals die Geschichte noch einmal lesen dürfen, die, an welche ich mich nicht mehr erinnern kann? Wirst du sie mir erzählen, Aslan? O bitte, bitte, bitte.«
»Ja, natürlich, ich werde sie dir noch jahrelang erzählen. Aber jetzt komm. Wir müssen den Herrn des Hauses begrüßen.«
11. Die Tölpelbeiner sind wieder glücklich
Lucy folgte dem großen Löwen hinaus auf den Flur, und dort sah sie, daß ihnen ein alter Mann entgegenkam. Er war barfuß und mit einer roten Robe bekleidet. Sein weißes Haar war von einem Kranz aus Eichenblättern gekrönt, sein Bart fiel bis auf den Gürtel, und er stützte sich auf einen seltsam geschnitzten Stab. Als er Aslan sah, verbeugte er sich tief und sagte: »Sei willkommen, Herrscher, im bescheidensten Eurer Häuser.«
»Wirst du müde, Koriakin, über diese törichten Geschöpfe zu herrschen, die ich dir überlassen habe?«
»Nein«, antwortete der Zauberer. »Sie sind sehr dumm, aber sie tun nichts Böses. Ich fange an, diese Geschöpfe liebzugewinnen. Manchmal bin ich vielleicht ein wenig ungeduldig und sehne den Tag herbei, an dem man mit Weisheit statt mit Zauberei über sie regieren kann.«
»Alles zu seiner Zeit, Koriakin«, sagte Aslan.
»Ja, alles zu seiner Zeit, Herrscher«, war die Antwort. »Habt Ihr vor, Euch den Geschöpfen zu zeigen?«
»Nein«, sagte der Löwe mit einem leisen Brummen, das (nach Lucys Meinung) so etwas wie ein Lachen war. »Ich würde sie zu Tode erschrecken. Und heute vor Sonnenuntergang muß ich Trumpkin, den Zwerg, besuchen, der im Schloß von Feeneden sitzt und die Tage zählt, bis sein König, Kaspian, heimkehrt. Ich werde ihm deine Geschichte erzählen, Lucy. Mach kein so trauriges Gesicht. Wir werden uns bald wiedersehen.«
»Bitte, Aslan«, sagte Lucy. »Was nennst du bald!«
»Ich nenne jegliche Zeit bald«, sagte Aslan. Im selben Augenblick verschwand er, und Lucy blieb mit dem Zauberer allein zurück.
»Weg!« sagte der. »Und wir beide sind ganz niedergeschlagen. So ist es immer – man kann ihn nicht halten. Er ist eben kein zahmer Löwe. Und wie hat dir mein Buch gefallen?«
»Teilweise sehr, sehr gut«, sagte Lucy. »Wußtest du die ganze Zeit über, daß ich da war?«
»Nun, als ich zuließ, daß die Tölpel sich unsichtbar machten, wußte ich natürlich, daß du bald kommen und den Zauber aufheben würdest. Aber ich wußte nicht genau, an welchem Tag das sein würde. Und heute morgen habe ich nicht richtig aufgepaßt. Weißt du, sie hatten mich ja auch unsichtbar gemacht, und wenn ich unsichtbar bin, dann werde ich immer müde. Uuu-ah – da gähne ich schon wieder. Hast du Hunger?«
»Na ja, vielleicht ein bißchen«, sagte Lucy. »Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist.«
»Komm«, sagte der Zauberer. »Für Aslan mag ja jegliche Zeit egal sein; aber in meinem Haus sind die hungrigen Zeiten immer Essenszeiten.«
Er führte sie ein Stück den Gang hinunter und öffnete eine Tür. Lucy trat ein und befand sich in einem schönen Zimmer voller Sonnenlicht und Blumen. Als sie hereinkam, war der Tisch leer. Aber auf ein Wort des Zauberers hin erschienen ein Tischtuch, Besteck, Teller, Gläser und Speisen.
»Ich hoffe, daß dir das schmeckt«, sagte der Zauberer. »Ich habe versucht, dir Speisen zu servieren, die dem, was du zu Hause ißt, ähnlicher sind als das, was du in letzter Zeit bekommen hast.«
»Es ist herrlich«, sagte Lucy. Und das war es auch. Da gab es ein Omelette, noch ganz heiß, kaltes Lammfleisch und grüne Erbsen und zum Nachtisch Stachelbeereis. Zu trinken gab es Limonade und hinterher eine Tasse Schokolade. Der Zauberer selbst trank nur Wein und aß nur Brot. Nichts Beunruhigendes war an ihm, und schon bald unterhielten er und Lucy sich wie alte Freunde.
»Wann wird der Zauberspruch wirken?« fragte Lucy. »Werden die Tölpel sofort wieder sichtbar werden?«
»O ja, sie sind schon jetzt wieder sichtbar. Aber vermutlich schlafen sie noch; sie halten immer Mittagsschlaf.«
»Wirst du sie jetzt auch von ihrer Häßlichkeit befreien, jetzt, wo sie wieder sichtbar sind? Wirst du sie wieder in das verwandeln, was sie vorher waren?«
»Nun, das ist eine schwierige Frage«, sagte der Zauberer.
»Weißt du, nur sie selbst glauben, sie wären vorher so hübsch gewesen. Sie sagen, man hätte sie häßlich gemacht, aber ich nenne es nicht so. Viele Leute wären vielleicht der Meinung, sie hätten sich zum Guten verwandelt.«