Meine Güte! Es ist eine Stadt oder ein riesiges Schloß! dachte Lucy.
Sie ließen die Stadt hinter sich, aber der Meeresgrund stieg immer noch an. Er lag jetzt nur noch etwa hundert Meter unter ihnen. Die Straße war verschwunden. Sie segelten über ein offenes, parkähnliches Gelände, mit einzelnen kleinen Waldungen mit Gewächsen in leuchtenden Farben. Und dann – Lucy hätte vor Aufregung fast aufgeschrien –, dann sah sie Leute.
Es waren zwischen fünfzehn und zwanzig, und sie saßen alle auf Seepferden – nicht auf den winzig kleinen Seepferdchen, die ihr vielleicht schon einmal im Museum gesehen habt, sondern auf Pferden, die um einiges größer waren als die Leute selbst. Es müssen edle und mächtige Leute sein, dachte Lucy, denn bei einigen sah sie auf der Stirn Gold glänzen, und smaragdgrüne und orangefarbene Bänder hingen von ihren Schultern und bewegten sich in der Strömung. Dann ...
Oh, zum Teufel mit diesen Fischen! dachte Lucy, denn ein ganzer Schwärm kleiner, fetter Fische, die dicht unter der Oberfläche schwammen, verdeckte ihr die Sicht auf die Meermenschen. Plötzlich schoß ein grimmiger kleiner Fisch, der völlig fremdartig aussah, von unten herauf, schnappte und sank dann mit einem der fetten Fische im Maul rasch wieder nach unten. Die Meermenschen saßen auf ihren Pferden und beobachteten, was da geschah. Sie schienen alle zu reden und zu lachen. Und noch bevor der jagende Fisch mit seiner Beute bei ihnen angelangt war, kam ein zweiter von diesen eigenartigen Fischen nach oben. Lucy war fast sicher, daß ihn einer der Meermenschen, der inmitten der Gruppe auf seinem Seepferd saß, heraufgeschickt hatte, und es sah so aus, als hätte er ihn bis dahin festgehalten.
Meine Güte! dachte Lucy. Es ist eine Jagdpartie! Oder eher so etwas wie eine Falkenjagd. Ja, das ist es. Sie reiten mit diesen grimmigen kleinen Fischen am Handgelenk aus, genau wie wir mit den Falken am Handgelenk ausritten, als wir vor langer Zeit Könige und Königinnen in Feeneden waren. Und dann lassen sie sie fliegen – oder eigentlich müßte man sagen schwimmen –, um andere Fische anzugreifen. Wie ...
Plötzlich hielt sie in ihren Gedanken inne, weil die Szene wechselte. Die Meermenschen hatten die »Morgenröte« bemerkt. Der Fischschwarm hatte sich nach allen Richtungen zerstreut, und die Meerleute kamen nach oben, um herauszufinden, was dieses große schwarze Ding zu bedeuten hatte, das sich zwischen sie und die Sonne geschoben hatte. Und jetzt waren sie so dicht unter der Oberfläche, daß Lucy mit ihnen hätte sprechen können, wenn sie an der Luft und nicht im Wasser gewesen wären. Es waren Frauen und Männer. Alle trugen eine Art Krone, und viele hatten Perlenketten um den Hals. Abgesehen davon trugen sie keine Kleider. Ihr Körper hatte die Farbe von vergilbtem Elfenbein, und ihr Haar war dunkelrot. Der König in der Mitte der Gruppe (er war ohne Zweifel der König) blickte Lucy stolz und grimmig ins Gesicht und drohte mit dem Speer in seiner Hand. Seine Ritter taten dasselbe. Auf dem Gesicht der Frauen lag Erstaunen. Lucy war sicher, daß sie noch nie ein Schiff oder einen Menschen gesehen hatten.
»Was starrst du denn da an, Lu?« sagte eine Stimme neben ihr.
Lucy war in das, was sie sah, so versunken, daß sie beim Klang der Stimme zusammenfuhr. Und als sie sich umdrehte, merkte sie, daß ihr Arm von dem langen, unbeweglichen Aufstützen auf der Reling eingeschlafen war. Drinian und Edmund standen neben ihr.
»Seht!« rief sie.
Sie schauten beide, und sogleich sagte Drinian mit leiser Stimme: »Dreht Euch um, Majestäten – ja, mit dem Rücken zum Meer. Und laßt Euch nicht anmerken, daß wir über etwas Wichtiges reden!«
»Warum, was ist los?« fragte Lucy, während sie gehorchte.
»Die Matrosen dürfen all dies niemals sehen«, erklärte Drinian. »Sonst verlieben sich die Männer in eine Meerfrau oder in das Unterwasserland und springen über Bord. Ich habe schon davon gehört, daß auf seltsamen Meeren derartige Dinge passiert sind. Es bringt immer Unglück, diese Leute zu sehen.«
»Aber wir haben sie doch früher gekannt!« protestierte Lucy. »Damals in Feeneden, als mein Bruder Peter König war. Bei der Krönung kamen sie an die Oberfläche und sangen.«
»Ich glaube, das muß eine andere Art gewesen sein, Lu«, sagte Edmund. »Sie konnten sowohl an der Luft als auch unter Wasser leben. Ich meine fast, daß diese hier das nicht können. Sonst wären sie sicher schon aufgetaucht und hätten uns angegriffen. Sie sehen sehr grimmig aus.«
»Wie dem auch sei«, begann Drinian, doch in diesem Augenblick ertönten zwei Geräusche. Das erste war ein lautes Platschen. Das zweite war eine Stimme von der Kampfplattform, die rief: »Mann über Bord!« Sofort setzte fieberhafte Aktivität ein. Einige der Matrosen kletterten rasch nach oben, um das Segel einzuholen. Andere rannten nach unten an die Ruder, und Rhince, der auf dem Achterdeck Dienst tat, warf das Ruder herum, um zu wenden und zu dem Mann zurückzukehren, der über Bord gegangen war. Aber inzwischen wußten alle, daß es eigentlich kein Mann war, sondern Riepischiep.
»Diese Maus soll verdammt sein!« rief Drinian. »Sie macht mehr Schwierigkeiten als der ganze Rest der Mannschaft zusammen. Wenn es irgendein Schlamassel gibt, in das man sich stürzen kann, dann ist Riepischiep der erste! Man sollte ihn in Ketten legen – und am Kiel mitziehen – und ihn aussetzen – und seinen Schnurrbart abschneiden! Kann irgend jemand das kleine Ekel sehen?«
All das bedeutete nicht, daß Drinian Riepischiep nicht mochte. Im Gegenteil – er mochte ihn sehr gerne und hatte deshalb Angst um ihn, und wenn er Angst hatte, bekam er immer schlechte Laune. Natürlich fürchtete keiner, Riepischiep könnte ertrinken, denn er war ein ausgezeichneter Schwimmer. Aber die drei, die wußten, was sich unter der Wasseroberfläche abspielte, hatten Angst vor diesen langen, grausamen Speeren in den Händen der Meermenschen.
Ein paar Minuten später hatte die »Morgenröte« gewendet, und alle sahen den dunklen Fleck im Wasser. Das war Riepischiep. Er plapperte voller Aufregung, doch weil er dauernd Wasser in den Mund bekam, verstand keiner, was er sagte.
»Er wird alles ausplaudern, wenn wir ihn nicht zum Schweigen bringen!« rief Drinian. Deshalb rannte er selbst zur Bordwand, ließ ein Tau hinunter und rief den Matrosen zu: »Alles in Ordnung, alles in Ordnung! Zurück auf eure Plätze! Ich hoffe doch, daß ich ohne Hilfe eine Maus an Bord ziehen kann!« Als Riepischiep begann, am Seil hochzuklettern – nicht sehr behende, denn das Wasser in seinem Fell machte ihn schwer –, lehnte sich Drinian vor und flüsterte ihm zu: »Sag nichts! Kein Wort!«
Doch als die tropfende Maus auf Deck angelangt war, stellte sich heraus, daß sie an den Meermenschen ganz und gar nicht interessiert war.
»Süß!« piepste sie. »Süß! Süß!«
»Wovon redest du?« fragte Drinian ärgerlich. »Und du brauchst dich auch nicht direkt vor mir auszuschütteln!«
»Ich sage, daß das Wasser süß ist«, sagte die Maus. »Es ist Süßwasser, kein Salzwasser.«
Einen Moment lang wurde keinem richtig klar, was das bedeutete. Doch dann wiederholte Riepischiep noch einmal die alte Prophezeiung:
»Wo die Wellen sich zur Süße wenden, zweifle nicht, Riepischiep, dort wird deine Suche enden, dort ist der äußerste Osten.«
Nun verstanden sie endlich.
»Gib mir einen Eimer, Rynelf!« sagte Drinian.
Er bekam ihn, ließ ihn hinunter und zog ihn wieder herauf. Das Wasser in dem Eimer schimmerte wie Glas.
»Vielleicht will Eure Majestät zuerst probieren«, sagte Drinian zu Kaspian.
Der König nahm den Eimer in beide Hände, hob ihn zu seinen Lippen, kostete, nahm dann einen tiefen Zug und hob den Kopf. Sein Gesicht hatte sich verändert. Nicht nur seine Augen, alles an ihm schien strahlender.
»Ja«, sagte er. »Es ist süß. Es ist tatsächlich richtiges Trinkwasser. Ich weiß noch nicht, ob ich daran sterbe. Aber dies wäre der Tod, den ich mir wünschte – könnte ich ihn mir aussuchen.«