»Was meinst du damit?« fragte Edmund.
»Es ist eher so wie Licht als wie irgend etwas anderes«, sagte Kaspian.
»Das ist es auch«, sagte Riepischiep. »Trinkbares Licht. Wir müssen jetzt dem Ende der Welt sehr nahe sein.«
Einen Augenblick lang herrschte Stille. Dann kniete sich Lucy nieder und trank aus dem Eimer.
»Das ist das Beste, was ich je gekostet habe«, sagte sie. »Aber – es ist stark! Jetzt brauchen wir nichts mehr zu essen.«
Dann tranken nacheinander alle anderen. Lange Zeit verharrten sie schweigend. Sie fühlten sich so gut und so stark, daß sie es kaum ertragen konnten, und plötzlich merkten sie auch noch etwas anderes. Wie ich vorher schon sagte, war es die ganze Zeit über, seit sie die Insel Ramandus verlassen hatten, viel zu hell gewesen – die Sonne war zu groß (aber nicht zu heiß), das Meer zu klar, die Luft zu grell gewesen. Jetzt war es nicht weniger hell – wenn möglich, so wurde es noch heller –, aber jetzt konnten sie diese Helligkeit ertragen. Sie konnten ohne zu blinzeln nach oben zur Sonne schauen. Sie sahen mehr Licht als jemals zuvor. Das Deck und das Segel und ihre eigenen Gesichter und Körper wurden heller und heller, und alle Taue an Bord strahlten. Und am nächsten Morgen, als die Sonne aufging (die inzwischen fünf- oder sechsmal so groß war wie normalerweise), starrten sie direkt in sie hinein und sahen sogar die Federn der Vögel, die von dort angeflogen kamen.
Den ganzen Tag über wurde an Bord kaum ein Wort gesprochen, und erst zur Abendessenszeit (allerdings wollte keiner etwas essen, denn das Wasser reichte ihnen völlig), sagte Drinian: »Ich verstehe das nicht. Kein Windhauch ist zu spüren. Das Segel hängt regungslos da. Die See ist so glatt wie ein Teich. Und trotzdem bewegen wir uns so schnell vorwärts, als hätten wir einen Sturm im Rücken.«
»Das habe ich mir auch schon gedacht«, entgegnete Kaspian. »Hier muß eine starke Strömung herrschen.«
»Hm«, meinte Edmund. »Wenn die Welt tatsächlich eine Kante hat und wir uns dieser Kante nähern, dann ist das gar kein so schöner Gedanke!«
»Meinst du, daß wir vielleicht – daß wir über die Kante gespült werden?« fragte Kaspian.
»Ja, ja!« rief Riepischiep und klatschte in die Pfötchen. »So habe ich es mir immer vorgestellt – daß die Welt aussieht wie ein großer runder Tisch und daß das Wasser von allen Meeren endlos über die Kante abfließt. Das Schiff wird nach vorne kippen, auf dem Bug stehen, einen Augenblick lang werden wir über die Kante sehen können – und dann abwärts, abwärts – rasend schnell.«
»Und was wird uns deiner Meinung nach am Grund erwarten, hm?« fragte Drinian.
»Vielleicht das Land Aslans«, sagte die Maus mit funkelnden Augen. »Oder vielleicht gibt es keinen Grund. Vielleicht geht es für alle Ewigkeiten abwärts. Aber wie es auch immer sein mag – wird es nicht dadurch aufgewogen, daß wir einen Augenblick lang über den Rand der Welt schauen dürfen?«
»Aber sieh mal«, sagte Eustachius. »Das ist doch alles Unsinn. Die Welt ist rund – ich meine rund wie ein Ball und nicht rund wie ein Tisch.«
»Das trifft für unsere Welt zu«, sagte Edmund. »Aber ob es für diese hier auch zutrifft?«
»Wollt ihr damit sagen«, entgegnete Drinian, »daß ihr drei aus einer Welt kommt, die so rund ist wie ein Ball, und daß ihr mir das nie gesagt habt? Das ist wirklich nicht schön von euch! Denn bei uns gibt es Märchen, in denen von runden Welten berichtet wird, und die habe ich immer geliebt. Ich habe nie geglaubt, daß es sie wirklich gibt. Aber ich habe mir immer gewünscht, daß es sie gäbe, und ich habe mich immer danach gesehnt, in einer solchen Welt zu leben. Oh, ich würde alles dafür geben – ich frage mich, warum ihr in unsere Welt kommen könnt und wir nicht in die eure? Wenn ich das nur könnte! Es muß aufregend sein, auf einem Ding zu leben, das aussieht wie ein Ball. Seid ihr jemals in den Gegenden gewesen, wo die Leute mit dem Kopf nach unten laufen?«
Edmund schüttelte den Kopf. »Und so ist es auch nicht«, fügte er hinzu. »So eine runde Welt ist gar nicht besonders aufregend, wenn man dort lebt.«
16. Das äußerste Ende der Welt
Neben Drinian, Edmund und Lucy war Riepischiep der einzige an Bord, der die Meermenschen gesehen hatte. Er war sofort ins Wasser gesprungen, als er sah, wie der Meerkönig mit dem Speer drohte, denn er hielt dies für eine Art Warnung oder Herausforderung, und er wollte die Sache an Ort und Stelle klären. Aber die aufregende Entdeckung, daß das Wasser nicht mehr salzig war, hatte ihn abgelenkt, und bevor ihm die Meermenschen wieder in den Sinn kamen, hatten ihn Lucy und Drinian beiseite genommen und ihn gebeten, nichts darüber zu sagen, was er gesehen hatte.
So, wie die Dinge sich entwickelten, hätten sie sich ihre Befürchtungen sparen können, denn inzwischen glitt die »Morgenröte« über einen Teil des Meeres, der unbewohnt zu sein schien. Niemand außer Lucy sah jemals noch etwas von den Meermenschen, und selbst sie erhaschte nur noch einen flüchtigen Blick. Den ganzen Vormittag des nächsten Tages über segelten sie in flachem Wasser über dichtbewachsenem Grund. Kurz vor Mittag sah Lucy eine große Gruppe von Fischen zwischen den Meerespflanzen weiden. Sie aßen unentwegt und bewegten sich alle in die gleiche Richtung. Genau wie eine Schafherde, dachte Lucy. Plötzlich sah sie inmitten der Fische ein kleines Meermädchen, das etwa genauso alt war wie sie selbst. Es blickte ruhig und einsam und hielt eine Art Hirtenstab in der Hand. Lucy war sicher, daß dies eine Schäferin – oder eher eine Fischhirtin – war. Sowohl die Fische als auch das Mädchen befanden sich ziemlich dicht unter der Oberfläche. Gerade als sich Lucy, die sich über die Reling lehnte, über dem im seichten Wasser dahingleitenden Mädchen befand, schaute das Mädchen auf und blickte Lucy genau ins Gesicht. Keine von beiden konnte etwas zur anderen sagen, und schon einen Augenblick später verschwand das Mädchen nach achtern. Aber das Gesicht vergaß Lucy nie. Es war nicht erschrocken oder ärgerlich wie die Gesichter der anderen Meermenschen. Lucy hatte das Mädchen liebgewonnen, und sie war sicher, daß das Mädchen für sie das gleiche empfunden hatte. In diesem einen Augenblick waren sie Freundinnen geworden.
Danach glitt die »Morgenröte« viele Tage lang ohne Wind in den Segeln und ohne Schaum vor dem Bug über ein wellenloses Meer nach Osten. Jeden Tag und jede Stunde wurde das Licht strahlender, und doch wurde es nicht unerträglich. Keiner aß, keiner schlief, und keiner verspürte den Wunsch dazu. Aber sie zogen viele Eimer des schimmernden Wassers aus dem Meer, das stärker war als Wein und auch irgendwie flüssiger als gewöhnliches Wasser, und mit tiefen Zügen tranken sie sich gegenseitig zu. Und dieser und jener der Matrosen, die zu Beginn der Reise ältere Männer gewesen waren, wurden jetzt von Tag zu Tag jünger. Alle an Bord waren erfüllt von Freude und Erregung, aber es war keine Erregung, die zum Reden verführt. Je weiter sie segelten, desto weniger sprachen sie, und wenn sie sprachen, dann flüsterten sie. Die Stille dieses letzten Meeres hatte von ihnen Besitz ergriffen.
»Mein Lord«, sagte Kaspian eines Tages zu Drinian. »Was seht Ihr vor uns?«
»Herr«, antwortete Drinian. »Ich sehe etwas Weißes. Es reicht über den ganzen Horizont, von Norden nach Süden, so weit meine Augen reichen.«
»Das gleiche sehe auch ich«, sagte Kaspian. »Und ich kann mir nicht vorstellen, was das sein könnte.«
»Wenn wir uns in nördlicheren Breiten befänden, Eure Majestät«, sagte Drinian, »dann würde ich sagen, es sei Eis. Aber das kann es nicht sein; nicht hier. Trotzdem sollten wir Männer an die Ruder schicken, die das Schiff gegen die Strömung anhalten. Was immer das Zeug ist, wir wollen nicht mit dieser Geschwindigkeit hineinfahren!«
Dies geschah, und das Schiff wurde immer langsamer. Das weiße Etwas enthüllte auch beim Näherkommen sein Geheimnis nicht. Wenn es Land war, so mußte es ein sehr seltsames Land sein, denn es schien genauso glatt zu sein wie das Wasser, und es schien auf der gleichen Ebene zu liegen. Als sie ganz nahe herangekommen waren, warf Drinian das Steuer herum und drehte die »Morgenröte« nach Süden, so daß sie der Breite nach im Strom lag. Dann ließ er ein Stück am Rand der weißen Masse entlangrudern. Dabei machten sie eine wichtige Entdeckung: die Strömung war nur etwa zwölf Meter breit, und der Rest des Meeres lag so ruhig wie ein Teich da. Das war eine gute Neuigkeit für die Mannschaft, die schon befürchtet hatte, die Rückfahrt zum Lande Ramandus könne sich als recht unangenehm erweisen, wenn man die ganze Strecke gegen die Strömung rudern mußte.