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Aber als die anderen sich ein Weilchen später zu ihm gesellten, war er völlig verändert. Er war ganz weiß im Gesicht und hatte Tränen in den Augen.

»Das war nicht gut«, sagte er, »wie ich mich vorhin benommen habe. Mein Zorn und meine Prahlerei haben zu nichts geführt. Aslan hat zu mir gesprochen. Nein – ich meine damit nicht, daß er wirklich hier war. Er würde ja gar nicht in die Kabine passen. Aber dieser goldene Löwenkopf an der Wand ist zum Leben erwacht und sprach zu mir. Es war schrecklich – seine Augen! Nicht, daß er böse zu mir gewesen wäre – nur am Anfang ein wenig streng. Trotzdem war es schrecklich. Und er sagte ... er sagte ... oh, ich kann es nicht ertragen. Das Schlimmste, was er sagen konnte. Ihr müßt weiterrudern – Riep und Edmund und Lucy und Eustachius; und ich muß zurück. Allein. Und sofort. Wozu soll das bloß gut sein?«

»Kaspian, mein Lieber«, sagte Lucy. »Du wußtest doch, daß wir früher oder später in unsere Welt zurückmüssen!«

»Ja«, sagte Kaspian. »Aber dies ist früher!«

»Du wirst dich besser fühlen, wenn du zum Lande Ramandus zurückkehrst«, sagte Lucy.

Ein Weilchen später wurde er wieder etwas fröhlicher, aber auf beiden Seiten war es ein kummervoller Abschied, und ich will nicht viel darüber sagen. Gut ausgerüstet mit Lebensmitteln und Wasser (obwohl sie der Ansicht waren, sie brauchten weder zu essen noch zu trinken) und mit Riepischieps Weidenboot an Bord, legte das Boot etwa um zwei Uhr nachmittags von der »Morgenröte« ab, um durch den endlosen Lilienteppich zu rudern. Als letzten Gruß zeigte die »Morgenröte« all ihre Flaggen, und die Schilde der Männer wurden hinausgehängt. Von ihrem kleinen Boot aus, umgeben von all den Lilien, erschien ihnen die »Morgenröte« hoch und breit und heimelig. Sie waren noch recht nah, als sie sahen, wie das Schiff wendete und langsam nach Westen gerudert wurde. Aber obwohl Lucy ein paar Tränen vergoß, war sie noch nicht so traurig, wie man vielleicht erwartet hätte. Das Licht, die Stille, der prickelnde Duft des Silbermeeres und (eigenartigerweise) sogar die Einsamkeit selbst war zu aufregend.

Sie mußten nicht rudern, denn die Strömung trieb sie stetig nach Osten. Keiner von ihnen aß oder schlief. Die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag über bewegten sie sich in Richtung Osten, und als der dritte Tag anbrach – mit einer Helligkeit, die weder ihr noch ich ertragen könnten, selbst wenn wir eine dunkle Brille aufhätten –, sahen sie vor sich ein Wunder. Es war, als stünde eine Mauer zwischen ihnen und dem Himmel, eine grüngraue, zitternde, schimmernde Wand. Dann stieg die Sonne auf, und schon beim ersten Auftauchen sahen die vier sie durch die Wand hindurch, und die Wand leuchtete in herrlichen Regenbogenfarben auf. Da wußten sie, daß die Wand in Wirklichkeit eine lange und hohe Welle war – eine Welle, die für immer an einer Stelle steht, so, wie man es oft an der Kante eines Wasserfalls sieht. Sie schien etwa zehn Meter hoch zu sein, und Edmund, Lucy, Eustachius und Riepischiep wurden von der Strömung rasch darauf zugetrieben. Man sollte meinen, sie dächten daran, wie gefährlich das werden konnte. Aber das taten sie nicht. Ich glaube nicht, daß dies irgend jemand in ihrer Lage getan hätte. Denn nicht nur hinter der Welle, sondern auch hinter der Sonne sahen sie jetzt etwas. Wenn das Wasser des letzten Meeres nicht ihre Augen gestärkt hätte, dann hätten sie nicht einmal die Sonne gesehen. Aber jetzt konnten sie die aufgehende Sonne betrachten, und gleichzeitig die Dinge dahinter erkennen. Was sie erblickten – im Osten, hinter der Sonne –, war ein Bergzug. Er war so hoch, daß sie seinen Gipfel entweder nie gesehen haben oder es später vergaßen. Keiner von ihnen erinnerte sich, darüber den Himmel gesehen zu haben. Und die Berge müssen wirklich außerhalb dieser Welt gewesen sein. Denn jeder Berg, der auch nur ein Viertel oder ein Zwanzigstel dieser Höhe hat, müßte eigentlich von Schnee und Eis bedeckt sein. Aber diese Berge waren warm und grün und bedeckt mit Wäldern und Wasserfällen, wie hoch man auch schauen mochte. Und plötzlich kam ein Wind von Osten, verwarf die Kante der Wand vor ihnen zu schaumigen Formen und wirbelte das ruhige Wasser um sie herum auf. Er dauerte nur eine Sekunde oder so, aber was der Wind in dieser Sekunde mit sich gebracht hatte, das vergaß keines der drei Kinder. Er brachte einen Duft und einen Klang – eine Musik. Edmund und Lucy sprachen später nie darüber. Lucy sagte nur: »Es brach einem das Herz.« – »Warum?« fragte ich. »War es so traurig?« – »Traurig? Nein!!« sagte Lucy.

Niemand im Boot bezweifelte, daß sie über das Ende der Welt hinaus in das Land Aslans schauten.

In diesem Augenblick fuhr das Boot knirschend auf Grund. Das Wasser war jetzt selbst für ihr Boot zu flach. »Von hier aus«, sagte Riepischiep, »gehe ich allein weiter.«

Sie versuchten nicht, ihn aufzuhalten, denn jetzt schien es so, als sei alles vom Schicksal bestimmt oder schon einmal geschehen. Sie halfen ihm, sein kleines Weidenboot zu Wasser zu lassen. Dann nahm er sein Schwert ab (»Ich werde es nicht mehr brauchen«, sagte er) und warf es weit hinaus auf das Lilienmeer. Dort, wo es herunterfiel, blieb es mit dem Griff nach oben stecken. Dann sagte er Lebewohl. Um ihretwillen versuchte er, traurig zu sein, aber er bebte vor Glück. Zum ersten und zum letzten Mal tat Lucy das, was sie immer hatte tun wollen – sie nahm ihn in die Arme und streichelte ihn. Dann stieg er hastig in sein Weidenboot und nahm das Paddel. Die Strömung ergriff ihn und trug ihn mit sich, und er hob sich dunkel von den Lilien ab. Doch auf der Wellenwand wuchsen keine Lilien; sie erhob sich glatt und grün. Das Weidenboot wurde schnell und schneller, und es sah wunderschön aus, wie es die Wellenwand emporschoß. Für den Bruchteil einer Sekunde sahen sie das Boot und Riepischiep hoch oben auf dem Kamm der Welle. Dann verschwand er, und seit dieser Zeit hat keiner mehr Riepischiep, die Große Maus, gesehen. Aber ich glaube, daß er sicher das Land Aslans erreicht hat und daß er dort noch immer lebt.

Während die Sonne emporstieg, verblaßten die außerhalb dieser Welt liegenden Berge. Die Wellenwand blieb, doch dahinter erstreckte sich nur noch blauer Himmel.

Die Kinder stiegen aus dem Boot und wateten – nicht auf die Welle zu, sondern nach Süden, mit der Wasserwand zu ihrer Linken. Sie hätten nicht sagen können, warum sie das taten – es war vom Schicksal bestimmt. Und obwohl sie sich auf der »Morgenröte« sehr erwachsen gefühlt hatten und dies auch tatsächlich gewesen waren, empfanden sie jetzt genau das Gegenteil und hielten sich an der Hand, während sie durch die Lilien wateten. Sie spürten keine Müdigkeit. Das Wasser war warm, und es wurde immer flacher. Schließlich gingen sie auf trockenem Sand und dann auf Gras – auf einer mit sehr feinem, kurzem Gras bedeckten Fläche, die fast auf gleicher Höhe mit dem Silbermeer lag und die sich ohne die geringste Erhebung nach allen Richtungen erstreckte.

Und wie immer, wenn alles flach und baumlos ist, sah es so aus, als käme der Himmel vor ihnen herab und berührte das Gras. Aber während sie weitergingen, kam es ihnen eigenartigerweise so vor, als neige sich hier der Himmel wirklich herab und träfe mit der Erde zusammen – eine blaue, sehr helle Wand, aber fest und wirklich. Am ehesten hätte man sie mit einer Glaswand vergleichen können. Und bald darauf waren sie ganz sicher. Die Wand war schon ganz nah.

Aber zwischen ihnen und dem Fuß der Himmelswand befand sich auf dem grünen Gras etwas, was so weiß war, daß sie selbst mit ihren Adleraugen kaum hinsehen konnten. Sie gingen weiter und sahen, daß es ein Lamm war.

»Kommt und frühstückt!« sagte das Lamm mit sanfter Stimme.

Erst jetzt bemerkten sie, daß auf dem Gras ein Feuer flackerte, über dem Fische brieten. Sie setzten sich und aßen den Fisch. Zum ersten Male seit vielen Tagen waren sie hungrig. Und es war die beste Mahlzeit, die sie jemals gegessen hatten.

»Bitte, Lamm«, sagte Lucy. »Ist dies der Weg zum Land Aslans?«