»Bei denen wir nicht zulassen dürfen, dass sie zu einer größeren Bedrohung zusammenwachsen, die irgendwann für die Allianz zu einem Problem werden könnte.« Costa schaute finster auf den Tisch. »Was nicht heißen soll, dass da draußen nicht schon längst eine größere Bedrohung auf uns wartet.« Sie betätigte die Kontrollen vor ihr auf der Tischplatte. »Vor nicht allzu langer Zeit ist ein Syndik-Kurierschiff in diesem Sternensystem eingetroffen. Die von diesem Schiff gesendete Nachricht wurde von den neuen Führern der Syndikatwelten an uns weitergeleitet, begleitet von einer Bitte um Unterstützung. Eben noch haben sie versucht, uns umzubringen, und eine Minute später betteln sie uns an, ihnen zu helfen.«
Das Bild einer Syndik-CEO tauchte über dem Tisch auf. Im Gegensatz zu der äußeren Gelassenheit und Überheblichkeit, die Geary von diesen Leuten gewöhnt war, machte die CEO keinen Hehl aus ihrer Verzweiflung. »Wir haben zahlreiche Bitten um defensive Unterstützung gesendet, die alle unbeantwortet geblieben sind. Jetzt brauchen wir dringend Hilfe. Die Enigma-Rasse hat uns ein Ultimatum gestellt und verlangt, dass die Menschen dieses Sternensystem komplett evakuieren.«
»Die Enigma-Rasse?«, wiederholte Geary. »Bezeichnen die Syndiks so die Aliens?«
Boyens nickte. »Das schien mir keine wichtige Information zu sein. Falls es Sie tröstet, nur drei Mitglieder des neuen Exekutivrats wussten zuvor von der Existenz der Aliens. Die anderen besaßen nie eine Freigabe für diese Informationen. Das dort auf dem Bildschirm ist übrigens CEO Gwen Iceni vom Midway-Sternensystem. Eine anständige Frau, auch wenn sie eine CEO ist, wenn Sie mein Urteil über sie interessiert.«
CEO Iceni redete immer noch: »Das Ultimatum lässt keinerlei Spielraum für Verhandlungen oder Kompromisse, und alle Versuche, mit der Enigma-Rasse Kontakt aufzunehmen, sind bislang gescheitert, außer dass sie immer wieder ihre Forderungen senden. Von den fest installierten Verteidigungsanlagen in diesem Sternensystem abgesehen stehen nur einige kleinere mobile Einheiten zur Verfügung. Wie ich hörte, existiert die Flotte nicht mehr, die früher diese Region überwacht hat. Alle anderen Schiffe wurden ebenfalls von dieser Grenze abgezogen und in Richtung Allianz geschickt, um dort zu kämpfen. Jetzt besitzen wir keine Möglichkeit mehr, um uns zur Wehr zu setzen, und zugleich können wir bis zum Ablauf des Ultimatums der Enigma-Rasse nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung evakuieren. Wir benötigen alle Hilfe, die Sie uns senden können, sonst werden die Menschen hier so gut wie schutzlos der Enigma-Rasse ausgeliefert sein, wenn die nach Ablauf des Ultimatums das Sternensystem an sich nimmt. Wir werden kämpfen, aber wenn wir keine Hilfe bekommen, können wir nicht auf einen Sieg hoffen.« Das Bild verschwand, an seine Stelle trat ein schlichtes Textdokument, das die Forderungen der Aliens auflistete und den Zeitpunkt nannte, an dem das Ultimatum ablief. Geary sah, dass es bis zu diesem Termin nur etwas mehr als drei Wochen war.
In die Stille hinein, die sich dem Ende der Mitteilung angeschlossen hatte, sprach Rione: »Noch ein Fall, den wir befürchtet haben, ist eingetreten. Die Aliens wollen in Syndik-Territorium vordringen und nutzen dabei die Tatsache aus, dass die Syndiks geschwächt sind.«
»Sie wollen in von Menschen bewohntes Territorium vordringen« wurde sie von Sakai korrigiert. »Ein Teil der Menschheit ist geschwächt, aber jeder Vorteil, den diese Aliens jetzt erringen, geht zu Lasten der Stärke der gesamten Menschheit, wenn die sich ihnen später in den Weg stellen will.«
»Von dieser Grenze bis zur Allianz ist es ein weiter Weg«, grummelte Costa.
»Das hängt davon ab, wie man den Weg misst«, hielt Rione dagegen. »In Lichtjahren ausgedrückt ist es ein weiter Weg, das stimmt. Durch den Sprungraum dauert es auch lange, bis man die Allianz erreicht. Aber im Hypernet benötigt man gerade mal vier Wochen.«
»Das kommt hin«, stimmte Sakai ihr zu.
Costas Miene verfinsterte sich noch mehr. »Der Große Rat kann über die Situation diskutieren und entscheiden, was zu tun ist.«
»So viel Zeit haben wir nicht mehr«, beharrte Sakai. »Das Ultimatum läuft ab, noch bevor wir das Allianz-Gebiet wieder erreicht haben.«
»Pech für die Syndiks. Der Große Rat…«
»…hat Admiral Geary bereits die Autorität übertragen, im Umgang mit den Aliens entscheiden zu dürfen«, unterbrach Rione sie. »Wir können ihm beratend zur Seite stehen, aber er hat die Macht, die Vorgehensweise zu bestimmen.«
Wieder richteten sich alle Blicke auf ihn. Mit einem Mal verspürte Geary Sehnsucht nach der guten alten Zeit, als er nur einer von vielen Offizieren gewesen war, der einen Vorgesetzten hatte, der darüber entscheiden musste, wie man sich aus einer verfahrenen Situation retten sollte. Aber seit dem unerwarteten Angriff der Syndiks bei Grendel hatten die Leute damit begonnen, von ihm zu erwarten, dass er einen Weg aus einer verfahrenen Situation fand. Seltsam, dass er sich noch immer nicht daran hatte gewöhnen können.
Dass die Aliens in Aktion treten könnten, damit hatte er gerechnet. Nun gab es eine konkrete Situation, der er sich widmen musste. Und seine Flotte, die endlich ihren Krieg gewonnen hatte, würde bald erfahren, dass sie sich einem neuen Gegner stellen musste.
Aber es gab zumindest jemanden, dem er Fragen stellen konnte, und deshalb wandte er sich an Boyens. »Warum da? Was ist so besonders an diesem Sternensystem? Wieso wollen die Aliens dieses System besetzen?«
»Das hat mit seiner Lage zu tun.« Boyens rief ein Display auf, das diese Region des Syndik-Gebiets darstellte, dann zeigte er auf einen Stern an der Grenze zu den Aliens. »Das Midway-Sternensystem verdankt seinen Namen der Tatsache, dass es sich in einer guten Position zu anderen Sternen befindet. Von Midway aus können Schiffe direkt zu acht anderen Sternensystemen springen. Es ist ein hervorragender Knotenpunkt.«
Geary presste unwillkürlich die Lippen aufeinander, als er das Display betrachtete. »Und damit ist das System auch der Dreh- und Angelpunkt für die Verteidigung dieses gesamten Sektors, nicht wahr? Wenn die Aliens die Kontrolle über Midway erlangen, können sie als Nächstes diese acht anderen Sternensysteme bedrohen und deren Evakuierung fordern. Damit bricht die gesamte Verteidigung der Grenze zusammen.«
»Eines dieser acht Systeme wird zwar bereits von den Aliens kontrolliert, aber im Wesentlichen stimmt es. Es wären zu viele Sterne in Reichweite, die alle von uns verteidigt werden müssten. Wir müssten uns entlang der Grenze zurückfallen lassen, bis wir eine neue Linie gefunden haben, bei der durch die Sprungreichweiten möglichst wenige Systeme direkt bedroht sind.«
»Wir?«, fragte Costa spitz.
Boyens’ Gesicht lief leicht rot an. »Ich meinte die Syndikatwelten.«
»Die Syndikatwelten existieren nicht mehr.«
»Die Situation ist derzeit völlig unklar, vor allem in den Systemen entlang der Grenze. Aber wenn es nicht anders geht, werden wir dort irgendeine neue Gruppierung bilden. Wir können es uns nicht leisten, dass dieses Gebiet zerfällt. Einzelne Sternensysteme können nicht die Ressourcen aufbringen, um die Region zu verteidigen.«
»Und mit ›wir‹«, warf Rione ein, »meinen Sie jetzt die Bevölkerung in den Sternensystemen der Grenzregion?«
»Richtig.« Boyens schaute auf das Display. »Oder das, was noch davon übrig ist. Hören Sie, ich weiß, wie Sie über uns denken – und über mich persönlich. Aber wir haben es hier mit einem gemeinsamen Feind zu tun, was Grund genug sein sollte, um sich gegen ihn zusammenzuschließen.«
»Warum sind die Aliens Ihr Feind?«, fragte Sakai. »Wie sind die Syndikatwelten bislang mit der Enigma-Rasse umgegangen?«
»Ich kenne nicht alle Einzelheiten«, beharrte Boyens, »erst recht nicht über die Anfangsphase vor über hundert Jahren. Ich weiß, dass wir versucht haben, ihre Geheimnisse herauszufinden, aber soweit mir bekannt ist, sind wir dabei nie erfolgreich gewesen.«