»Warum greifen die nicht einfach an? Sie sind dreimal so viele wie wir, falls sich nicht irgendwo sogar noch mehr von ihrer Art versteckt halten. Wenn ich mir die Hypernet-Portale und diese Würmer ansehe, dann müssen ihre Waffen bei einer solchen Technologie mindestens so gut sein wie unsere. Sie hätten bis zum Augenblick des Angriffs verheimlichen können, wie viele sie wirklich sind. Aber sie versuchen, uns von hier zu verscheuchen, anstatt mit uns zu kämpfen.«
Ihre Überlegungen brachten ihn ins Grübeln. »Damit sind wir wieder bei Duellos’ Rätsel angekommen. Federn oder Blei? Das unlösbare Rätsel, bei dem sich die Lösung ändert, wenn der Dämon will, dass sie sich ändert. Wie können wir die richtige Antwort finden, wenn wir die Frage nicht verstehen, die die Aliens stellen? Und wenn wir nicht mal wissen, was die Frage für sie eigentlich bedeutet?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Die Aliens geben uns die Chance, kampflos von hier zu verschwinden«, beharrte sie. »Sie versuchen, uns dazu zu überreden. Dabei haben sie doch schon bewiesen, dass sie völlig unerbittlich sind, als sie das Hypernet-Portal bei Kalixa zusammenbrechen ließen. Warum sind sie dann jetzt so nett zu uns? Es sieht doch so aus, dass wir ihre Schiffe gar nicht entdecken können, wenn sie es nicht wollen. An ihrer Stelle würde ich doch mit meiner Flotte in dieses System kommen, alles überrennen und der anderen Seite deutlich machen, dass sie mich zukünftig in Ruhe lassen soll. Ich hätte nicht gezeigt, wie viele Schiffe ich habe, und vor allem hätte ich meine Schiffe so lange getarnt gelassen, bis ich mich in den Reihen des Feindes befinde, um dann aus nächster Nähe das Feuer zu eröffnen, so wie sie es in der Vergangenheit mit den Syndiks gemacht haben.«
Er beugte sich vor und ließ sich Desjanis Argumente in Ruhe durch den Kopf gehen. Es war tatsächlich eigenartig. Zugegeben, sie hatten es mit jemandem zu tun, der nicht so dachte wie Menschen, der aber äußerst erbarmungslos sein konnte, wenn er wollte. Sie wussten nichts über die Motive der Aliens, aber nichts von dem, was sie bisher getan hatten, konnte man von einem menschlichen Standpunkt als irrational bezeichnen, auch wenn sie beispielsweise in Kalixa bewiesen hatten, dass sie definitiv keine Gnade kannten, wenn sie es mit Menschen zu tun hatten. Die Aliens schienen im kaltblütigsten Sinn des Wortes Pragmatiker zu sein, was sie aber nicht zu Teufeln machte. Sie waren lediglich darauf aus, ihre eigenen Interessen durchzusetzen, und das war eine Eigenschaft, die die Menschheit bei anderen Spezies besser nicht kritisieren sollte. Aber Desjani hatte es mit ihrer Frage auf den Punkt gebracht und damit Gearys Aufmerksamkeit zum Teil von der Alien-Armada abgelenkt. Warum sollte eine pragmatisch denkende, nichtmenschliche Spezies, die zu erbarmungslosem Verhalten fähig war, einer Flotte der Menschheit gegenüber so gnädig sein, wenn sie ihr dadurch eines Tages doch wieder gegenüberstehen konnte?
Wären sie Menschen, hätte er sich schon früher gewundert, warum sie die Allianz-Flotte entkommen lassen wollten. Aber welche Gründe sollte er bei den Aliens vermuten? »Warum sollten sie uns loswerden wollen, anstatt uns zu vernichten?«
»Das habe ich mich zuerst auch gefragt«, gab Desjani zurück. »Ich denke, wir können getrost davon ausgehen, dass es keine moralischen Bedenken sind, die sie davon abhalten, die Flotte zu vernichten.«
»Nachdem sie uns alle reingelegt haben, indem wir für sie die Hypernet-Portale gebaut haben? Und nachdem sie Kalixa zerstört haben? Und versucht haben, das Syndik-Heimatsystem auszulöschen? Nein, moralische Bedenken können da keine Rolle spielen.«
»Und sie haben auch keinen Angriff gestartet, solange die Reserveflotte der Syndiks hier stationiert war«, ergänzte Desjani.
Auch das stimmte. »Was bedeuten dürfte, dass diese Flotte vermutlich stark genug war, um sie in Unruhe zu versetzen, obwohl sie mit einer solchen Armada, wie wir sie jetzt sehen, die Syndiks auch leicht hätten überwältigen können. Was wiederum heißt, dass wir ebenfalls stark genug sind, um sie zu beunruhigen, auch wenn es eigentlich nicht den Anschein hat.«
»Dann«, folgerte Desjani, »sind sie vielleicht gar nicht so stark, wie sie aussehen. Und vielleicht haben sie allen Grund, besorgt zu sein, ob sie uns wohl besiegen können, auch wenn das zahlenmäßige Verhältnis eine deutliche Sprache zu sprechen scheint.«
Das hörte sich plausibel an, warf aber die Frage auf, warum die Aliens von dieser Sorge geplagt werden sollten, wenn sie doch so viele Schiffe hatten. Fürchteten sie zu hohe Verluste? Aber sie hatten doch mehr als einmal gegen die Syndiks gekämpft. Vielleicht war das hier ja so ähnlich wie beim Hypernet-Portal im Syndik-Heimatsystem. Sie sahen etwas, von dem sie nicht wussten, was es bedeutete. So etwas wie ein trojanisches Pferd. Aus einem unerfindlichen Grund gelang es Geary nicht dahinterzukommen, während sein Verstand sich an den Formulierungen festklammerte, die er und Desjani in den letzten Minuten benutzt hatten. Die Armada, wie wir sie jetzt sehen… Nicht so stark, wie sie aussehen… »Sehen«. Warum wollte ihm sein Verstand weismachen, dass dieses Wort so wichtig war?
Es sollte nicht wichtig sein, weil keiner von ihnen die Aliens direkt ansah. Alle Beobachtungen stammten von den Sensoren der Flotte, und die waren sehr gut und konnten viel weiter und viel deutlicher sehen als jedes menschliche Auge. Syndik-Sensoren unterschieden sich in Details, waren aber im Prinzip nichts anderes, und die Syndiks hatten über Jahrzehnte hinweg versucht, mehr über die Aliens herauszufinden, was ihnen aber nicht gelungen war.
Desjanis Überlegungen mussten in die gleiche Richtung gegangen sein. Nachdenklich betrachtete sie ihr Display, dann hob sie eine Hand und zeigte mit dem Finger darauf. »Es sieht so aus, als wären wir hoffnungslos unterlegen.«
»Das ist das, was unsere Sensoren melden.«
»Aber wenn wir alles andere in Erwägung ziehen, was wir wissen, wenn wir überlegen, wie die Aliens sich in der Vergangenheit verhalten haben und wie sie sich jetzt verhalten, dann ergibt das keinen Sinn, was unsere Sensoren uns melden. Wenn dieses Bild stimmt, dann ist alles verkehrt, was wir wissen.«
Er wusste, worauf sie hinauswollte, da sein Geist sich in die gleiche Richtung vorarbeitete. »Die Syndiks glauben, einige Dinge über die Aliens zu wissen, und das hat sie zu bestimmten Schlussfolgerungen geführt, wozu die Aliens in der Lage sein sollen.« Zum Beispiel Boyens, der davon überzeugt gewesen war, dass die Aliens nicht für den Zusammenbruch des Hypernet-Portals bei Kalixa verantwortlich gewesen sein konnten. Oder die Syndiks im Heimatsystem, die nichts von den Würmern in den Systemen ihrer Kriegsschiffe gewusst hatten. »Aber wir haben unsere Analyse der Aliens nicht in dem Glauben begonnen, bereits etwas über sie zu wissen. Alles was wir zu wissen glauben, war die Folge neuer Beobachtungen, und ich würde bei der Ehre meiner Vorfahren schwören, dass unsere Schlussfolgerungen bezüglich der Aliens und ihrer Vorgehensweisen nicht verkehrt sind. Wenn das also alles stimmt…«
»…dann muss das Bild verkehrt sein, das wir zu sehen bekommen«, folgerte Desjani.
Ein trojanisches Pferd, in dem eine verborgene Bedrohung steckte. Und dabei war seine Aufmerksamkeit so wie die jedes anderen Offiziers die ganze Zeit über auf das gerichtet gewesen, was sich da draußen befand – die Armada der Aliens. »Wir haben doch jedes einzelne System unserer Kriegsschiffe von den Würmern der Aliens gesäubert, richtig?«
Desjani nickte. »Das gehört inzwischen zu den ganz normalen Sicherheitsroutinen.«
»Hat seit unserer Ankunft hier eine Überprüfung stattgefunden?«
Sie lächelte ihn grimmig an, dann drehte sie sich um. »Lieutenant Castries, stellen Sie fest, wann die Schiffssysteme zum letzten Mal auf Quantenwahrscheinlichkeitswürmer durchsucht wurden.«
Der erschrockene Lieutenant Castries führte den Befehl sofort aus und meldete: »Vor zwei Tagen, Captain.«