«Also, was meint Ihr, Fidelma von Kildare, werdet Ihr die Aufgabe übernehmen?» drängte Gelasius.
Fidelma sah in Gelasius’ hageres, adlernasiges Gesicht. Auch diesmal glaubte sie, in den dunklen Augen des Bischofs Angst zu erkennen. Nachdenklich fragte sie sich, ob sie tatsächlich nur in der Furcht vor einem bewaffneten Kampf am nordwestlichen Ende der Welt begründet war. Doch sie hatte keine andere Wahl. Sie neigte den Kopf. «Also gut. Aber es gibt Bedingungen.»
«Bedingungen?» Marinus musterte sie argwöhnisch.
«Welche?» wollte Gelasius wissen.
«Ganz einfache. Der ersten habt Ihr bereits zugestimmt, nämlich daß Bruder Eadulf in dieser Untersuchung als mein gleichberechtigter Partner gilt und wir alle Entscheidungen einmütig treffen. Die zweite Bedingung ist, daß wir bei unseren Ermittlungen freie Hand bekommen. Wir brauchen die Erlaubnis, jeden zu befragen, dessen Aussage wichtig ist, selbst wenn wir den Heiligen Vater höchstpersönlich behelligen müßten. Es darf für keinen von uns irgendwelche Beschränkungen geben.»
Auf Gelasius’ Gesicht erschien ein nachsichtiges Lächeln. «Aber Ihr wißt doch sicherlich, daß einige dem Heiligen Stuhl unterstellte Teile der Stadt den fremdländischen clericos verschlossen sind.»
«Genau aus diesem Grund stelle ich diese Bedingung», entgegnete Fidelma kühl. «Wenn ich im Rahmen meiner Untersuchungen gewisse Schritte für nötig halte, muß ich die Befügnis besitzen, sie zu unternehmen.»
«Aber dazu wird es doch sicher nicht kommen, da wir den Täter bereits kennen. Im Grunde braucht Ihr seine Schuld nur noch zu bestätigen», warf Marinus ein.
«Doch dieser Täter beteuert seine Unschuld», widersprach Fidelma. «Und nach dem irischen Gesetz gilt ein Mensch solange als unschuldig, bis seine Schuld zweifelsfrei erwiesen ist. Deshalb werde auch ich zunächst davon ausgehen, daß Ronan Ra-gallach unschuldig ist, und zwar bis zu dem Moment, in dem ich seine Schuld bewiesen habe. Falls Ihr von mir erwartet, daß ich die Schuld Eures Täters einfach bestätige, kann ich diesen Fall nicht übernehmen.»
Gelasius warf Marinus einen gequälten Seitenblick zu. Der superista der custodes runzelte verärgert die Stirn.
«Ihr werdet alle nötigen Befugnisse erhalten, Schwester Fidelma», räumte der Bischof schließlich ein. «Ihr und Bruder Eadulf könnt Eure Ermittlungen ganz so durchführen, wie Ihr es für richtig erachtet. Ich werde dafür sorgen, daß der praetor pe-regrinus unterrichtet ist. Allerdings solltet Ihr nicht vergessen, daß Ihr nur ermitteln, nicht aber eigenmächtig das Gesetz in die Hand nehmen dürft. In der Vollstreckung des Rechts unterliegt auch Ihr den in dieser Stadt üblichen Verfahren und der Zuständigkeit des praetor peregrinus. Marinus wird eine Vollmacht aufsetzen, und ich werde dafür sorgen, daß der praetor sie unterschreibt.»
«Einverstanden», stimmte Fidelma zu.
«Wann wollt Ihr anfangen?»
Fidelma stand auf. «Am besten gleich.»
Zögernd erhoben sich die anderen von ihren Plätzen.
«Und wie werdet Ihr vorgehen?» fragte Marinus. «Ich nehme an, als erstes werdet Ihr Euch diesen Ronan Ragallach vorknöpfen?»
«Eins nach dem anderen», erwiderte Fidelma und sah dabei Eadulf an. «Zunächst werden wir das domus hospitale und Wighards Gemächer in Augenschein nehmen. Ist die Leiche von einem Medikus untersucht worden?»
«Ja, vom Leibchirurgen des Heiligen Vaters, Cornelius von Alexandria», antwortete Gelasius.
«Dann werden wir Cornelius von Alexandria zuerst befragen.»
Auf dem Weg zur Tür zögerte sie und drehte sich noch einmal zu Gelasius um. «Mit Eurer Erlaubnis, Bischof?»
Gelasius, der in ihrer Stimme einen spöttischen Unterton zu hören glaubte, brachte nur ein hilfloses Winken zustande. Während Eadulf sich tief über die Hand des Bischofs beugte und den Smaragdring mit den Lippen streifte, war Fidelma schon an der Tür.
«Kommt, Eadulf, wir haben viel zu tun», drängte sie freundlich.
«Ich werde Euch zu Wighards Gemächern führen», bot Marinus seine Begleitung an.
«Das wird nicht nötig sein, superista, vielen Dank. Allerdings wäre ich Euch dankbar, wenn Ihr die Vollmacht so bald wie möglich aufsetzen und dafür sorgen könntet, daß wir das schriftliche Einverständnis des praetor peregrinus noch vor dem Mittagsangelus erhalten.»
Vor der Tür stand der junge Offizier der custo-des, der sie von der Herberge zum Palast begleitet hatte.
«Und außerdem», fuhr Fidelma, an Marinus gewandt, fort, «wäre ich Euch sehr verbunden, wenn ich zum Zeichen meiner amtlichen Befognis-se die Dienste eines Eurer Soldaten in Anspruch nehmen könnte, damit jeder auf den ersten Blick erkennt, daß ich in Eurem Auftrag handle. Dieser junge Mann hier wäre dafür sicher gut geeignet.»
Marinus schürzte die Lippen und fragte sich, ob er widersprechen sollte, dann nickte er kurz. «tesse-rarius!»
«Zu Diensten, superista!» Der junge Mann stand stramm.
«Ihr werdet Eure Befehle ab sofort von Schwester Fidelma oder Bruder Eadulf entgegennehmen, und zwar solange, bis ich Euch persönlich von dieser Pflicht entbinde. Die beiden handeln in Absprache mit mir, Bischof Gelasius und dem praetor pe-regrinus.»
Auf dem Gesicht des Mannes spiegelte sich blankes Erstaunen, «superista?» stammelte er, als bezweifelte er, richtig gehört zu haben.
«Habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt?»
Der tesserarius lief rot an und schluckte. «Zu Befehl, superista!»
«Gut. Eure Vollmacht werde ich Euch sobald wie möglich zukommen lassen, Schwester Fidelma. Und zögert nicht, Euch an mich zu wenden, falls Ihr mich braucht.»
Gefolgt von Eadulf und einem völlig verwirrten jungen Offizier, eilte Fidelma hinaus.
«Wie lauten Eure Befehle, Schwester?» fragte der Soldat, als sie in den Innenhof traten. Am Himmel zeigte sich das erste Morgengrauen, und die Vögel übertönten mit ihrem Gezwitscher fast das Plätschern des Brunnens.
Fidelma blieb stehen, um den jungen Mann, der sie so rüde aus dem Schlaf gerissen hatte, aufmerksam zu betrachten. Auch bei Tageslicht strahlte er eine gewisse Überheblichkeit aus. In der prächtigen Uniform der Lateranwache machte er eine gute Figur: jeder Zoll ein römischer Edelmann. Fidelma lächelte breit.
«Wie heißt Ihr?»
«Furius Licinius.»
«Und Ihr stammt zweifellos aus einer uralten römischen Patrizierfamilie.»
«Natürlich, ja.» Der junge Mann runzelte die Stirn. Er wußte ihren leicht spöttischen Unterton nicht zu deuten.
Fidelma seufzte. «Das ist gut. Vielleicht werde ich jemanden brauchen, der mir, was die Sitten in der Stadt und im Lateranpalast angeht, beratend zur Seite steht. Wir haben den Auftrag, den Mord an Wighard von Canterbury aufzuklären, der in einer Woche vom Heiligen Vater zum neuen Erzbischof geweiht werden sollte.»
«Aber er wurde doch von einem irischen Mönch ermordet.» Der junge Mann sah sie verwirrt an.
«Das müssen wir erst noch herausfinden», erwiderte Fidelma scharf. «Ihr habt also von dem Mord gehört?»
Der junge Mann zuckte die Achseln. «Die meisten custodes wissen davon. Aber ich bin sicher, daß der irische Mönch schuldig ist.»
«Wieso das?»
«Ich hatte Dienst im Wachzimmer, als mein Kamerad, decurion Marcus Narses, mit dem irischen Mönch hereinkam. Man hatte gerade Wig-hards Leichnam entdeckt und diesen Ronan Ragal-lach in unmittelbarer Nähe seiner Gemächer aufgegriffen.»
«Normalerweise würde man das ein Indiz nennen», entgegnete Fidelma. «Und doch behauptet Ihr, daß Ihr Euch sicher seid. Warum?»