«Vor zwei Nächten war ich zum Wachdienst im Innenhof vor dem Gästehaus eingeteilt, wo auch Wighard und sein Gefolge untergebracht waren. Gegen Mitternacht hörte ich jemanden durch den Hof schleichen. Ich verfolgte ihn und traf schließlich auf den irischen Mönch, der heftig bestritt, sich in der Nähe des domus hospitale aufgehalten zu haben. Nicht nur in dieser Hinsicht hat er mich belogen. Er hat mir auch einen falschen Namen genannt: Bruder <Eien-Dina>.»
«Bruder Aon Duine?» verbesserte Fidelma seine Aussprache. Als der tesserarius nickte, wandte sie sich ab, um ihr Grinsen zu verbergen. Auch Eadulf, der die irische Sprache beherrschte, verstand den Witz, der dem jungen Offizier verborgen geblieben war.
«Ich verstehe», sagte sie ernst, nachdem sie sich wieder gefaßt hatte. «Er hat sich Euch gegenüber als <Bruder Niemand> ausgegeben, denn das bedeuten diese Worte in meiner Sprache. Was noch?»
«Er behauptete, aus seiner Studierstube gekommen zu sein, was sich später als falsch erwies ...»
«Als ebenso falsch wie sein Name?» fragte Eadulf mit lächelnder Unschuldsmiene.
«Als mir klar wurde, daß er mich belogen hatte, war er längst über alle Berge. Deshalb bin ich davon überzeugt, daß er schuldig ist.»
«Schuldig vielleicht . aber welchen Verbrechens?» gab Fidelma zurück. «Ob er des Mordes überführt werden kann, müssen wir erst noch sehen. Aber das können wir später mit diesem Ronan Ragallach selbst besprechen. Kommt, Furius Lici-nius, führt mich zu dem Medikus, der Wighards Leichnam untersucht hat.»
V
CORNELIUS VON ALEXANDRIA, LEIB-
chirurgus Seiner Heiligkeit, des Bischofs von Rom, war ein kleiner, dunkelhäutiger Grieche mit Knollennase und schmalen Lippen. Der schwarzblaue Schatten auf seinem Kinn ließ auf einen starken Bartwuchs schließen. Die dunklen, durchdringenden Augen fragend auf die Eindringlinge gerichtet, erhob er sich mißmutig, als Furius Licinius, gefolgt von Fidelma und Eadulf, seine Gemächer betrat.
«Was gibt es, tesserarius?» Sein Tonfall machte aus seinem Ärger über die Störung kein Hehl.
«Seid Ihr Cornelius, der Medikus?» fragte Fidelma in fließendem Griechisch. Erst im nachhinein fiel ihr ein, daß Bruder Eadulf diese Sprache nicht so gut beherrschte, und wiederholte ihre Frage noch einmal auf Latein.
Der Grieche aus Alexandria musterte sie mit argwöhnischem Blick. «Ich bin der Leibchirurgus Vitalians», bestätigte er. «Und wer seid Ihr?»
«Ich bin Fidelma von Kildare, und dies ist Bruder Eadulf von Canterbury. Bischof Gelasius hat uns beauftragt, die Umstände von Wighards Tod näher zu untersuchen.»
Der Medikus schnaubte verächtlich. «Da gibt es nicht viel zu untersuchen, Schwester. Die Tatsachen liegen auf der Hand.»
«Dann könnt Ihr uns also sagen, wie er gestorben ist?»
«Er ist erdrosselt worden.»
Fidelma erinnerte sich an ihr Zusammentreffen mit Wighard in Witebia, wo er als scriba Erzbischof Deusdedits aufgetreten war.
«Soweit ich mich erinnere, war Wighard ziemlich groß und kräftig. Nur ein sehr starker Mensch hätte ihn erdrosseln können.»
Cornelius schniefte. Offenbar hatte er die ärgerliche Angewohnheit, seine Worte durch unüberhörbare Nasengeräusche zu unterstreichen. «Ihr wärt erstaunt, Schwester, wenn Ihr wüßtet, wie einfach es ist, selbst einen kräftigen Mann zu erwürgen. Ein bloßes Abdrücken der Arteria carotis und der Jugularvenen im Nacken reicht aus, um die Versorgung des Gehirns mit Blut zu unterbinden, und das führt zu sofortiger Bewußtlosigkeit. Das Ganze dauert allerhöchstens drei Sekunden.»
«Vorausgesetzt, das Opfer läßt zu, daß ihm jemand die Adern im Nacken abdrückt», erwiderte Fidelma nachdenklich. «Wo befindet sich Wighards Leichnam jetzt? Noch immer in seinen Gemächern?»
Cornelius schüttelte den Kopf. «Ich habe ihn ins mortuarium bringen lassen.»
«Wie schade.»
Ihr unterschwelliger Tadel schien Cornelius zu verärgern.
«Von mir könnt Ihr alles über Wighards Tod erfahren, Schwester», erwiderte er kühl.
«Vielleicht», antwortete Fidelma leise. «Zeigt uns Wighards Leiche. Dann könnt Ihr uns erklären, wie Ihr zu Euren Erkenntnissen gelangt seid.»
Cornelius zögerte, dann verbeugte er sich mit einem leicht spöttischen Grinsen. «Wenn Ihr mir bitte folgen wollt», sagte er und führte sie durch eine kleine Tür zu einer steilen Wendeltreppe. Sie kamen durch einen langen, düsteren Gang in eine große, kalte, mit Marmor geflieste Halle, wo auf mehreren Steinplatten in fleckige Leinentücher eingehüllte Leichen lagen.
Cornelius trat auf eine der Platten zu und schlug das Tuch zurück.
«Wighards Leiche», verkündete er nasal und deutete auf die blasse, wachsgesichtige Gestalt.
Fidelma und Eadulf traten näher, um den Leichnam zu betrachten, während sich Licinius unauffällig im Hintergrund hielt. Im Leben war Wig-hard von Canterbury ein großer, lebensfroher Mann mit grauem Haar und rundlichem Gesicht gewesen, auch wenn sich hinter seinem harmlosen Äußeren, wie Fidelma aus ihrer Zeit in Witebia wußte, kühle Berechnung und rücksichtsloser Ehrgeiz verborgen hatten. Seine Augen hatten sie stets an die eines gerissenen Fuchses erinnert. Ohne Muskelspannung hing das blasse, wächserne Fleisch schlaff herunter, so daß er kaum wiederzuerkennen war.
Fidelmas Blick fiel auf die Blutergüsse an seinem Hals.
Mit einem finsteren Lächeln trat Cornelius vor. «Wie Ihr seht, Schwester, ist er tatsächlich erdrosselt worden.»
«Wenn auch nicht mit bloßen Händen.»
Offenbar erstaunt über ihre Beobachtungsgabe, zog Cornelius die Augenbrauen hoch.
«Ihr habt recht. Er ist mit seiner Gebetsschnur erdrosselt worden.»
Damit meinte er die geknotete Schnur, die den Geistlichen als Gürtel, aber auch als Gedächtnisstütze für ihre Gebete diente, denn die Anzahl der Knoten stand für die Gebete, die sie im Laufe eines Tages sprechen mußten.
«Sein Gesicht wirkt so ruhig, als würde er schlafen», bemerkte Fidelma. «Nichts deutet auf ein gewaltsames Ende hin.»
Der alexandrinische Chirurgus zuckte die Achseln. «Wahrscheinlich ging alles so schnell, daß er gar nicht merkte, was mit ihm geschah. Wie ich schon sagte, dauert es nicht lange, bis das Opfer die Besinnung verliert, wenn die entsprechenden Adern abgedrückt werden. Hier ... und hier.» Er zeigte auf Wighards Hals. Wie ein Lehrer, der begabten Schülern sein Wissen vermittelt, begann er zu erklären. «Es war der große Medikus Galen von Pergamon, der diese Arterien entdeckte und bewies, daß sie Blut und nicht Luft enthalten, wie man bis dahin angenommen hatte. Er nannte sie Arteria carotis nach dem griechischen Wort für Benommenheit, um damit anzuzeigen, daß ihr Abdrücken unweigerlich zur Bewußtlosigkeit führt ...»
«Und ich habe immer gedacht», warf Bruder Eadulf mit einem belustigten Seitenblick zu Schwester Fidelma ein, «Herophilus, der dreihundert Jahre vor Christi Geburt die große Schule der Medizin in Eurer Heimatstadt Alexandria gründete, hätte längst klargestellt, daß unsere Arterien Blut und nicht Luft enthalten, und zwar vier Jahrhunderte vor Galen.»
Erstaunt sah Cornelius zu dem sächsischen Bruder auf. «Ihr seid auf dem Gebiet der Medizin bewandert, Sachse?»
Eadulf grinste. «Ich habe einige Jahre lang das Kollegium der Medizin in Tuaim Brecain besucht.»
«Ah», nickte Cornelius zufrieden. «Dann kann es durchaus sein, daß Ihr einige wenige Kenntnisse erworben habt. Gewiß ist der große Herophilus zu der genannten Schlußfolgerung gelangt, doch blieb es Galen überlassen, dies als Tatsache festzuschreiben und die wahre Bedeutung der Arterien zu ergründen. Außerdem ist das jugulum, das wir Schlüsselbein nennen, namensgebend für verschiedene Venen im Nackenbereich. Sie führen das Blut vom Kopf zurück, während die Arterien das Blut in den Kopf schicken. In Wighards Fall wurden alle diese Adern abgedrückt. Der Tod muß bei ihm in wenigen Sekunden eingetreten sein.»