Hic contesta jactet quaeris si turba piorum, corpora sanctorum retinent venereanda sepul-cra ...
«Hier ruhen die Überreste der Gläubigen», murmelte Eadulf auf irisch, «heilige Grabstätten bewahren die Leiber der Seligen.»
Fidelma war ergriffen. «Das ist sehr beeindruk-kend, Eadulf. Danke, daß Ihr es mir gezeigt habt.»
«Es gibt noch umfangreichere Katakomben in anderen Teilen Roms, sogar unmittelbar unter dem Vatikanhügel, wo Petrus und Paulus ihre letzte Ruhestätte haben. Die größte von allen ist jedoch das Grabmal des heiligen Calixtus, des großen Papstes und Märtyrers, gleich an der Via Appia.»
«Unter anderen Umständen würde ich mir gern noch mehr ansehen, Eadulf», sagte Fidelma, «aber wir müssen dringend über den Mord an Wighard sprechen.»
Eadulf seufzte tief auf, stellte die Kerze auf einer Steinplatte ab und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Wand.
«Warum seid Ihr Euch so sicher, daß Ronan Ragallach unschuldig ist?» fragte er. «Nur, weil es sich um einen Iren handelt?»
Fidelmas Augen schienen im flackernden Kerzenlicht gefährlich aufzublitzen. Eadulf sah, wie sie nach Luft schnappte, und bereitete sich auf einen Sturm der Entrüstung vor, der jedoch ausblieb. Langsam und beherrscht atmete Fidelma aus. «Was Ihr da sagt, ist Eurer unwürdig, Eadulf. Ihr solltet mich besser kennen», sagte sie sanft.
Eadulf hatte seine Worte, sobald sie ausgesprochen waren, längst bereut.
«Es tut mir leid», sagte er schlicht, und sie wußten beide, daß dies keine leere Floskel war.
Verlegenes Schweigen entstand. Endlich sagte Eadulf: «Aber Ihr müßt doch zugeben, daß Ronan Ragallach sich durch sein Verhalten eindeutig verdächtig macht.»
«Ja», stimmte Fidelma zu. «Vielleicht ist es sogar ein wenig zu eindeutig ...»
«Nicht alle Mordfälle sind so verworren wie der an Äbtissin Etain in Witebia.»
«Das will ich gar nicht abstreiten. Und ich habe auch nicht gesagt, daß Ronan Ragallach unschuldig ist. Ich glaube nur, daß es noch viele Fragen zu beantworten gibt, ehe wir seine Schuld mit Sicherheit feststellen können. Und die sollten wir gemeinsam prüfen.»
Sie hob die Hand, um die einzelnen Punkte an den Fingern abzuzählen. «Nach allem, was wir bisher wissen, kniete Wighard vor seinem Bett und wurde mit seiner eigenen Gebetsschnur erdrosselt. Warum hat er gekniet?»
«Weil er in seine Gebete versunken war?»
«So versunken, daß er seinem Mörder Gelegenheit gab, sein Schlafgemach zu betreten, sich dicht hinter ihn zu stellen, seine Gebetsschnur zu nehmen und ihn zu erdrosseln, ohne die geringste Gegenwehr zu leisten? Das wäre doch zumindest ungewöhnlich. Außerdem hätte sich Ronan Ragallach so geschickt anschleichen müssen, daß Wighard ihn nicht bemerkte. Wir wissen aber, daß Ronan Ragal-lach ziemlich beleibt ist und zu lautem, keuchendem Atmen neigt.»
«Vielleicht hat Wighard den irischen Bruder hereingebeten und .» begann Eadulf.
«Und ihn aufgefordert zu warten, während er mit dem Rücken zu ihm vor seinem Bett niederkniete, um seine Gebete zu sprechen? Das ist doch eher unwahrscheinlich.»
«Gut. Aber danach sollten wir Ronan Ragallach selbst fragen, sobald die Soldaten ihn wieder eingefangen haben.»
«In der Zwischenzeit sollten wir uns überlegen, ob Wighard seinen Mörder möglicherweise so gut gekannt hat, daß er ohne jeden Argwohn in seiner Gegenwart betete», sagte Fidelma. «Als sein Sekretär müßtet Ihr doch eigentlich sagen können, wie gut er Bruder Ragallach kannte und ob dies ausreichte, um ihm ein solches Vertrauen entgegenzubringen.»
Eadulf zuckte die Achseln. «Ich bin nicht einmal sicher, ob er Bruder Ronan überhaupt gekannt hat», gestand er.
«Hm . Es gibt aber noch einen anderen Gesichtspunkt, der mir Sorgen bereitet. Es heißt, man habe Ronan Ragallach aus Wighards Gemächern fliehen sehen. Gleichzeitig fehlen Münzen und Wertgegenstände aus Gold und Silber, und der Diebstahl wurde als mögliches Mordmotiv genannt.»
Eadulf konnte ihr da nicht widersprechen.
«Außerdem heißt es», fuhr Fidelma fort, «daß Bruder Ronan nichts bei sich trug, als er im Korridor vor Wighards Gemächern ertappt wurde. Auch bei seiner Verhaftung wenig später unten auf dem Innenhof hat man nichts Verdächtiges bei ihm gefunden, und die Durchsuchung des Gebäudes durch die custodes hat ebenfalls nichts ergeben. Wenn Ronan also tatsächlich der Mörder ist und unmittelbar nach der Tat gestellt wurde, hätte er doch besagte Wertgegenstände bei sich haben müssen, die immerhin ziemlich sperrig sind.»
Eadulf sah sie zweifelnd an. Insgeheim ärgerte er sich über sich selbst, weil er nicht von allein auf diese Widersprüche gekommen war. Er dachte angestrengt nach.
«Vielleicht hatte Ronan Wighard schon früher ermordet und bestohlen», sagte er schließlich. «Das würde erklären, warum die Leiche kalt war, als Marcus Narses sie fand. Möglicherweise wurde Ronan ertappt, als er noch einmal zurückkehrte, um etwas zu holen. Oder er hatte einen Komplizen.»
Fidelma lächelte. «Drei mögliche Erklärungen. Aber es gibt noch eine vierte: Ronan kann auch einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen sein.»
Eadulf schwieg. «Letztlich lassen sich diese Fragen erst beantworten, wenn Bruder Ronan Ragal-lach wieder hinter Schloß und Riegel sitzt», sagte er.
Fidelma neigte leicht den Kopf zur Seite und sah ihn fragend an. «Ihr seid also immer noch der Ansicht, daß es bis dahin für uns nichts zu tun gibt?»
«Ich räume ja ein, daß noch einige Widersprüche bestehen. Aber nur Bruder Ronan .»
«Nun, zumindest sind wir uns über den ersten Teil Eurer Aussage einig, Eadulf», unterbrach sie ihn. «Wärt Ihr einverstanden, wenn wir, solange uns Bruder Ronan noch nicht zur Verfügung steht, unsere Ermittlungen in einer anderen Richtung fortsetzen und die Menschen befragen, die Wig-hard von Kent aus begleitet und in den letzten Tagen viel Zeit mit ihm verbracht haben?»
«Ich begreife nicht . », begann der sächsische Mönch zögernd, fuhr dann jedoch nach einer Pause fort: «Also, gut. Zumindest kann es nicht schaden.»
Fidelma lächelte. «Gut. Dann laßt uns überlegen, wen wir alles befragen wollen, sobald wir wieder im Lateranpalast sind. Wer gehörte alles zu Wighards Gefolge?»
«Nun ja, als sein scriptor wäre da wohl vor allem erst einmal ich zu nennen», antwortete Eadulf mit einem spöttischen Grinsen. «Aber mich kennt Ihr ja bereits.»
Fidelma fand das gar nicht lustig. «Dummkopf! Ich meine die anderen. Es sind ihm doch noch mehr Leute gefolgt, darunter Schwester Eafa und diese herrische Äbtissin Wulfrun, deren Gesellschaft wir uns auf der Schiffreise von Massilia erfreuen durften.»
Bei Fidelmas spöttischem Unterton verzog Eadulf das Gesicht.
«Äbtissin Wulfrun ist, wie Ihr wahrscheinlich wißt, eine Prinzessin von königlichem Geblüt, eine Schwester Seaxburghs, der Gemahlin König Eor-cenbrehts von Kent.»
Die in seiner Stimme mitschwingende Ehrfurcht rief bei Fidelma Mißfallen hervor. «Wer in den Stand der Geistlichkeit eintritt, ist eins mit der Kirche und hat keinen anderen Rang als den, den ihm die Kirche gewährt.»
Im Kerzenlicht sah sie, wie Eadulf errötete und unwillig von einem Fuß auf den anderen trat. «Dennoch, eine sächsische Prinzessin hat ...»
«Nicht mehr Anspruch auf Anerkennung als jeder andere Laie, der einem heiligen Orden beitritt. Bedauerlicherweise hält sich Äbtissin Wulfrun jedoch noch immer für eine Prinzessin von Kent. Mir tut Schwester Eafa leid. Wulfrun kommandiert sie herum, als wäre sie ihre Sklavin.»
Insgeheim hatte auch Eadulf mit der jungen Schwester Mitleid verspürt. Doch in den sächsischen Königreichen spielten Geburt und Rang eine große Rolle.
«Wer außer den Genannten gehörte noch zu Wighards Gefolge?» wechselte Fidelma das Thema.