Voller Dankbarkeit erreichten sie die Stufen zum Mausoleum und traten blinzelnd hinaus ins helle Sonnenlicht.
Der kleine Junge hockte noch immer mit ausdruckslosem Gesicht vor seinen Kerzen.
Der alte Mann pustete seine Lampe aus und stellte sie neben dem Eingang zum Mausoleum ab. «Hätte der Junge mir nichts gesagt . » Er zuckte die Achseln.
Aus ihrem marsupium, der Geldtasche in den Falten ihres Gewandes, zog Fidelma eine Silbermünze hervor und reichte sie dem Jungen, der sie einsteckte, ohne dabei irgendeine Regung zu zeigen. Unterdessen hatte auch Eadulf eine Münze hervorgekramt und sie dem alten Mann angeboten, doch der schüttelte nur den Kopf.
«Die Münze für den Jungen reicht völlig aus», sagte er barsch. «Aber falls Ihr wollt, könnt Ihr das nächste Mal, wenn Ihr dort drüben in der prächtigen Kirche weilt», er zeigte auf die fernen Türme der Johannes-Basilika, «eine Kerze anzünden und ein Gebet für den Jungen sprechen.»
Fidelma sah ihn fragend an. «Ihr erbittet nichts für Euch selbst, alter Mann?»
«Der Junge hat Gebete nötiger als ich», grunzte der Alte abwehrend.
«Warum denn das?»
«Wenn meine Zeit gekommen ist, wird er auf dieser Welt ganz alleine sein. Ich bin alt, und meine Geschicke wurden in all den Jahren von einem gütigen Schicksal gelenkt. Aber der Vater des Jungen, der mein Sohn war, ist mir mit seiner Frau schon vorausgegangen. Der Junge hat niemanden, und vielleicht können Eure Gebete ihm ein besseres Leben bescheren, als dazu verdammt zu sein, tagein, tagaus hier zu hocken und fremden Pilgern Kerzen zu verkaufen.»
Aufmerksam musterte Fidelma das gleichmütige Gesicht des Jungen. Die ruhigen, leeren Augen erwiderten ihren Blick ohne jeden Ausdruck.
«Was würdest du auf dieser Welt denn lieber tun?» fragte sie sanft.
«Was macht das schon? Ich kann ja doch nur hier sitzen und träumen», murmelte der Junge mit tonloser Stimme.
«Und wovon träumst du?»
Einen kurzen Augenblick lang blitzte es in den Augen des Jungen. «Ich würde gern lesen und schreiben können und in einem großen Kloster leben. Aber das geht ja nicht.»
Das Licht in seinen Augen erlosch, und sein Gesicht erstarrte.
«Weil wir uns den Unterricht nicht leisten können», seufzte der alte Mann. «Ich habe keinerlei Bildung, versteht Ihr», erklärte er, als müsse er sich entschuldigen. «Und ich habe kein Geld. Pilgern Kerzen zu verkaufen sichert nicht mehr als den dürftigsten Lebensunterhalt. Für irgendwelchen Luxus bleibt da nichts mehr übrig.»
«Wie heißt du, Junge?» fragte Fidelma freundlich.
«Antonio, Sohn des Nereus», antwortete der Junge, nicht ohne Stolz.
«Wir werden für dich beten, Antonio», versicherte ihm Fidelma. Dann wandte sie sich an seinen Großvater und neigte den Kopf. «Und für Euch ebenfalls, Alter. Dank Euch für Eure Hilfe, die für uns gerade noch rechtzeitig kam.»
VII
TROTZ DES SPÄTEN NACHMITTAGS WAR
es noch immer heiß und schwül. Schwester Fidelma war vom Friedhof aus in die von Diakon Ar-senius und seiner Frau Epiphania geführte Herberge zurückgekehrt. Seit dem Morgengrauen war sie schon auf den Beinen und fühlte sich ziemlich erschöpft. Sie mußte unbedingt etwas essen und eine Siesta halten, wie man hier die Mittagsruhe nach der sexta, der sechsten und heißesten Stunde des Tages, nannte. Belebt und erfrischt von einem kurzen Schlummer, traf sie anschließend mit tesserarius Furius Licinius zusammen, der schon darauf wartete, sie zum Lateranpalast zu begleiten, wo sie mit der Befragung der Gefolgsleute Wighards beginnen wollten.
Doch als erstes erkundigte sie sich bei dem jungen Soldaten nach dem entflohenen Bruder Ronan Ragallach.
Licinius schüttelte bedauernd den Kopf. «Wir haben nicht die geringste Spur von ihm, seitdem er heute morgen aus seiner Zelle ausgebrochen ist, Schwester. Offenbar hält er sich irgendwo in der Stadt versteckt, obwohl er mit seiner fremdländischen Tonsur eigentlich überall auffallen müßte.»
Fidelma blickte ihn nachdenklich an.
«Ihr seid also davon überzeugt, daß er noch immer in der Stadt ist?»
Licinius zuckte die Achseln. Sie gingen am Oratorium der Heiligen Prassede vorbei, bogen in die Via Merulana ein und steuerten den Lateranpalast am Fuße des Hügels an.
«Wir haben die Wachen an allen Toren der Stadt benachrichtigt. Aber Rom ist groß und unübersichtlich, es gibt Viertel, in denen man jahrelang untertauchen kann, und zahllose Möglichkeiten zur Flucht. Am Tiber entlang zum Beispiel, nach Ostia oder Porto zur Küste, wo täglich unzählige Schiffe in See stechen, um in alle Länder der Welt zu fahren.»
«Mein Gefühl sagt mir, daß er sich noch in der Stadt befindet. Früher oder später wird er wieder auftauchen.»
«Deo volente», erwiderte Licinius ehrfürchtig. «So Gott will.»
«Kennt Ihr Euch in Rom gut aus, Licinius?» griff Fidelma nach einer Weile den Gesprächsfaden wieder auf.
Licinius blinzelte. «So gut sich jemand hier auskennen kann. Ich bin auf dem Aventin geboren und aufgewachsen. Meine Vorfahren waren römische Adlige der allerersten Stunde - Tribune, die vor neunhundert Jahren das Licinische Gesetz einführten.» Fidelma bemerkte, wie sein jugendliches Gesicht vor Stolz errötete. «Unter den mächtigen Cäsaren wäre ich ein General der kaiserlichen Armee geworden, kein kleiner ...»
Er beherrschte sich, schaute verärgert zu Fidelma hinüber, als sei sie der Anlaß dafür, daß er seiner Wut über seine untergeordnete Stellung Luft gemacht hatte. Dann verfiel er in finsteres Schweigen.
«Vielleicht könnt Ihr mir etwas erklären, das mir rätselhaft ist», sagte Fidelma mit so ruhiger Stimme, als habe sie seinen Gefühlsausbruch nicht bemerkt. «Ständig hört man, was für eine schöne und reiche Stadt Rom ist, und doch sehen viele Häuser so beschädigt aus, als hätte es gerade einen Krieg gegeben. Manche Gebäude fallen fast in sich zusammen, bei anderen fehlt das Dach. Es sieht aus, als seien erst vor kurzem Barbaren über die Stadt hergefallen. Dabei weiß ich, daß es viele Jahre her ist, seit Geise-rich mit seinen Vandalen die Stadt geplündert hat. Die Schäden scheinen jüngeren Datums zu sein.»
Licinius grinste. «Ihr seid eine gute Beobachterin, Schwester. Leider ist der Barbar, der für diese Zerstörung verantwortlich ist, kein anderer als unser eigener Kaiser.»
Fidelma sah ihn fragend an. «Das müßt Ihr mir erklären.»
«Ihr wißt sicherlich, daß das römische Reich seit mehr als zwanzig Jahren Krieg mit den Arabern führt. Sie ziehen mit ihren Flotten über unsere Meere und rauben jedes Schiff aus, das ihnen in die Hände fällt. Sie haben weite Teile des früheren Reichs in Nordafrika erobert und nutzen diese als Stützpunkte, um uns anzugreifen. Kaiser Constans II. beschloß daraufhin, auf Sizilien eine starke Festung zu errichten und von dort aus die Verteidigung gegen diese Fanatiker zu führen .»
«Fanatiker?» fragte Fidelma.
«Seitdem sie sich zu der neuen Religion eines Propheten namens Mohammed bekennen, haben sich die Araber rasch nach Westen ausgebreitet. Sie nennen ihren Glauben Islam, Hingabe an Gott, und seine Anhänger bezeichnen sich als Muslime.»
«Ah», Fidelma nickte. «Ich habe von diesen Leuten gehört. Aber erkennen sie nicht die Glaubenssätze sowohl der Juden als auch des Christentums an?»