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«Das wißt Ihr noch nicht?» fragte Fidelma erstaunt zurück. Ines Erstaunen war offenbar echt.

«Nein. Das hat mir noch niemand gesagt.»

Der sächsische Mönch wirkte empört. Wahrscheinlich, mutmaßte Fidelma, fühlte er sich als Vertrauter Wighards in seinem Stolz gekränkt. Doch die Entrüstung machte bald wieder seiner üblichen Schwermut Platz.

«Ist das alles?» fragte er mit Trauermiene.

«Nein», entgegnete Fidelma. «Ihr habt die Geschenke also gestern noch einmal auf Hochglanz gebracht . Um welche Stunde war das?»

«Kurz vor dem Abendessen.»

«Und zu der Zeit war noch alles da?»

Ine reckte trotzig das Kinn. «Aber gewiß doch. Es war alles da.»

«Und als Ihr am Abend zu Wighard gegangen seid», mischte sich Eadulf ein, «war die Truhe da offen oder geschlossen?»

«Geschlossen», lautete die prompte Antwort des sächsischen Mönchs.

«Wie könnt Ihr Euch da so sicher sein?» fragte Fidelma nach.

«Weil der Blick sofort auf die Truhe fiel, wenn man Wighards Gemächer betrat.»

«Wurde der wertvolle Schatz von irgend jemandem bewacht?»

«Nur von den custodes des päpstlichen Palasts. Einer der Soldaten patrouillierte ständig auf den Treppen.»

Fidelma dachte nach. «Auf den Treppen? Nicht auf dem Korridor?»

«Ja. Außerdem waren an den Eingängen zum Gästehaus Wachen postiert. Wir waren im dritten Stockwerk des Gebäudes untergebracht, dorthin konnte man nur über die beiden Treppen gelangen.»

«Aber die Wachen waren nicht ständig im Korridor. Es hätte also jemand den Schatz fortschaffen können, ohne dabei gesehen zu werden.»

«Doch niemand konnte aus dem Gebäude gelangen, ohne den custodes in die Arme zu laufen.» Ines Miene erhellte sich. «Natürlich! So haben sie ja auch den irischen Mönch gefangen! Dann müßte der Schatz doch längst geborgen sein.»

Fidelma warf Eadulf einen bedeutungsvollen Blick zu und wandte sich dann wieder an Bruder Ine.

«Eures Wissens nach gab es also keine ständige Bewachung für den Schatz? Keiner der Soldaten hat ständig vor Wighards Gemächern Dienst getan?»

«So ist es.»

Fidelma seufzte tief und lehnte sich zurück. «Danke, das wäre alles. Vielleicht werden wir Euch später noch einmal rufen lassen.»

Mit dem gleichen Widerwillen, den er beim Betreten des officiums an den Tag gelegt hatte, erhob sich Bruder Ine von seinem Stuhl und ging hinaus. Nachdem die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, drehte Fidelma sich zu Eadulf um.

«Wir wissen jetzt, daß der gestohlene Schatz kurz vor dem Abendessen zum letzten Mal gesehen wurde und Wighard zwei Stunden vor Mitternacht noch gesund und munter war. Außerdem wissen wir, daß Wighard in den letzten Stunden seines Lebens einen Besucher erwartete. Kurz nach Mitternacht wurde dann Bruder Ronan Ragallach im Korridor vor Wighards Gemächern gesehen und im hinteren Innenhof festgenommen. Bruder Ronan hatte jedoch keinen der wertvollen Gegenstände bei sich, die - mit Ausnahme der Reliquien, die keinen unmittelbaren Geldwert besitzen - spurlos verschwunden sind.»

«Das ist nicht viel mehr, als wir bereits vorher wußten.»

«Licinius!» rief Fidelma und erhob sich von ihrem Stuhl.

Der junge Soldat öffnete die Tür. «Mit wem wünscht Ihr als nächstes zu sprechen, Schwester?» fragte er steif.

«Mit Euch, tesserarius. Auf einen Augenblick.»

Überrascht trat der junge Offizier ins Zimmer und schloß die Tür hinter sich.

«Furius Licinius, wie lange seid Ihr schon bei der Wache des Lateranpalasts?»

«Ich bin seit vier Jahren bei den custodes», antwortete Licinius prompt. «In den letzten beiden Jahren habe ich eine decuria kommandiert, und vor kurzem bin ich zum Wachoffizier oder tesserarius ernannt worden.»

«Man könnte also behaupten, daß Ihr den Palast recht gut kennt?»

«So gut ihn jemand kennen kann», antwortete der junge Mann, wobei er lieber nicht daran dachte, wie leicht er sich noch vor wenigen Nächten von dem irischen Geistlichen über dessen angebliche Studierstube hatte täuschen lassen.

«Hat decurion Marcus Narses nach unserem heutigen Gespräch eine weitere Durchsuchung der Räume im Gästehaus veranlaßt?»

Licinius lächelte, da ihm einfiel, welche Blamage die Entdeckung eines Teils des Schatzes unter Wighards Bett für seinen Kameraden gewesen war.

«Ja, Schwester, aber die Suche hat nichts ergeben.»

«Laßt uns ein wenig spekulieren. Nehmen wir einmal an, Ihr hättet Wighard getötet und stündet nun vor der Aufgabe, einen großen Schatz fortzuschaffen, der aus mindestens zwei großen Säcken voller schwerer Metallgegenstände besteht. Wie würdet Ihr das bewerkstelligen?»

Der tesserarius sah sie mit großen Augen an, dachte aber angestrengt nach, ehe er antwortete. «Ich wüßte, daß die beiden Treppen, die zum dritten Stock führen, von Patrouillen bewacht werden. Deshalb würde ich den Schatz auf dem gleichen Stockwerk verstecken und später wiederkommen, um ihn zu bergen, denn auch ohne die schweren Säcke wäre es schon schwer genug, das Gebäude zu verlassen, ohne den Wachen in die Arme zu laufen. Aber Marcus Narses hat die Räume auf diesem Stockwerk bereits durchsucht, und außer den beiden Lagerräumen waren zur Tatzeit alle Räume bewohnt. Es gibt in diesem Gebäude keine verborgenen Kammern oder Nischen.»

«Hm», erwiderte Fidelma. «Und trotzdem sollen wir glauben, daß es Bruder Ronan Ragallach gelang, Wighard zu töten und mit dem sperrigen Schatz zu verschwinden ... und daß er gleichzeitig von Eurem Freund, decurion Marcus Narses, entdeckt und festgenommen wurde, während er vom Tatort floh. Ist Ronan Ragallach ein Zauberer, der einen großen Schatz zum Verschwinden bringen kann? Nach der Aussage des decurion trug er nichts Verdächtiges bei sich. Könnt Ihr mir das erklären, Furius Licinius?»

Zu ihrem Erstaunen zögerte der tesserarius keine Sekunde. «Aber das ist doch ganz einfach, Schwester. Entweder hatte Bruder Ronan den Schatz bereits versteckt, als Marcus ihn sah und verfolgte, oder er hatte einen Komplizen, der den Schatz verschwinden ließ, während Ronan gefangengenommen wurde.»

Fidelma schüttelte zweifelnd den Kopf. «Ein Komplize? An sich ist das ein ausgezeichneter Gedanke! Allerdings ist es eher unwahrscheinlich, daß dieser Komplize den Wachen aus dem Weg gehen konnte. Stellt Euch vor, Furius Licinius, Ihr habt jemanden getötet und wartet anschließend in dessen Zimmer, während Euer Komplize mindestens zweimal mit einem großen Sack die Treppe hinuntergehen muß, ohne dabei den Wachen zu begegnen. Dann harrt Ihr so lange aus, bis Euer Komplize sich aus dem Staub gemacht hat, verlaßt mit leeren Händen das Mordzimmer und . werdet verhaftet.»

«Dann muß die erste Lösung zutreffen: Dieser Ronan hatte den Schatz bereits versteckt, als er gefangengenommen wurde», stellte Eadulf fest und fügte nachdenklich hinzu: «Wenn Ronan den Schatz schon versteckt hätte, wäre er anschließend sicherlich nicht noch einmal in Wighards Gemächer zurückgekehrt. Schließlich mußte er sich so schnell wie möglich vom Tatort entfernen.»

«Wer sagt denn, daß Ronan Ragallach aus Wig-hards Gemächern kam, als er von decurion Marcus entdeckt wurde?» warf Fidelma ein.

Eadulf und Licinius sahen sie fragend an.

«Etwas, das Furius Licinius vorhin sagte, bringt mich ins Grübeln .»

«Was könnte das gewesen sein?» Der junge Offizier war verwirrt.

Fidelma nickte. «Nehmen wir an, Ronan hätte Wighard tatsächlich wegen des Schatzes ermordet. Wighard ist tot. Ronan muß den Schatz in mindestens zwei Säcken verstauen. Wie soll er diese Säcke fortschaffen? Er muß auf jeden Fall zweimal gehen. Erst nach der zweiten Fuhre wird er dann von Marcus Narses ertappt, und zwar nicht, als er Wig-hards Gemächer verläßt, sondern wie er aus einem Versteck auf dem gleichen Stockwerk kommt, an dem er die Beute verschwinden ließ.»