«Aber wo hätte er sie verschwinden lassen können?» gab Licinius zu bedenken. «Ich sagte Euch doch schon, es gibt keine geheimen Kammern, Nischen oder Wandschränke, und Marcus Narses hat alle Zimmer, die in der fraglichen Nacht leer waren, zweimal durchsucht.»
«Ja, das habt Ihr gesagt, und die custodes haben . » Fidelma hielt inne und starrte Licinius eindringlich an.
«Marcus Narses hat ... was?» Ihre Stimme klang wie ein Peitschenschlag.
Der junge custodes war überrascht von der heftigen Reaktion, die seine Worte ausgelöst hatten.
«Ich habe nur gesagt, daß Marcus Narses Eure Anweisungen befolgt hat und alle Zimmer, die in der fraglichen Nacht leer waren, zweimal gründlich durchsuchen ließ.»
«Ich dachte, es seien alle Räume durchsucht worden?»
Licinius sah sie mit großen Augen an.
«Aber Bruder Ronan Ragallach hätte doch unmöglich versucht, den gestohlenen Schatz in einem Zimmer zu verstecken, das von Wighards Gefolgsleuten bewohnt wurde? Wir dachten natürlich, daß .»
Fidelma stöhnte leise. «Alle Räume, leer oder bewohnt, hätten unbedingt durchsucht werden müssen.»
«Aber .»
«Ist Marcus Narses zum Beispiel in Bruder Ea-dulfs Kammer gewesen?» fragte Fidelma.
Licinius starrte die beiden an, als hätte sie den Verstand verloren. «Natürlich nicht», erwiderte er.
«Aber meine Kammer war zur Mordzeit leer», sagte Eadulf so betont ruhig, als könne er sich nur mit Mühe beherrschen.
«Dann laßt uns sofort gehen!» Fidelma sprang von ihrem Stuhl auf und schnippte so laut mit den Fingern, daß der tesserarius erschrocken zusammenfuhr.
«Wohin?» fragte er in verständnislosem Ton.
Fidelma streifte ihn mit einem verächtlichen Blick. «Eadulfs Kammer war leer, weil er um Mitternacht bei der Messe für Aidan von Lindisfarne in der Basilika der Heiligen Maria war.»
VIII
DIE DURCHSUCHUNG VON EADULFS
Cubiculum, das im Vergleich zu Wighards prunkvollen Räumen karg und schmucklos wirkte, erwies sich als enttäuschend. Fidelma hatte nicht wirklich damit gerechnet, die fehlenden Gegenstände dort zu finden. Dennoch hatte sie gehofft, auf irgendeinen Hinweis zu stoßen, der ihr geholfen hätte, das verwirrende Rätsel zu lösen. Aber so gründlich sie auch jeden Zentimeter unter die Lupe nahmen - ein solcher Hinweis ließ sich einfach nicht finden.
Furius Licinius verzog das Gesicht. «Dann muß es doch so gewesen sein, wie ich es vorhin schon sagte: Dieser Bruder Ronan hatte einen Komplizen, und während die custodes mit Ronan beschäftigt waren, ist der Komplize mit dem Schatz verschwunden.»
Obgleich Schwester Fidelma gegen die Schlußfolgerung des jungen Offiziers nichts einwenden konnte, hatte sie Zweifel.
«Ich nehme an, Bruder Ronans Unterkunft ist ebenfalls gründlich durchsucht worden?» fragte sie.
Furius Licinius nickte. «Marcus Narses ist persönlich dort gewesen, hat aber keine Spur von Wighards Schatz entdeckt.»
«Ich würde seine Unterkunft gern selbst in Augenschein nehmen.»
Licinius schien von ihrem Vorhaben nicht allzu begeistert zu sein. «Jetzt sofort?»
«Warum nicht?»
Als sie sich zum Gehen wandten, stand plötzlich ein Mann in der offenen Tür. Er war so groß, daß er sich hätte bücken müssen, um sich nicht den Kopf am hölzernen Türsturz zu stoßen. Seine dämonischen Gesichtszüge waren ebenmäßig und hatten für Fidelma doch etwas Widerwärtiges. Es war jener Mangel an Mitgefühl, den sie schon vorher bei Abt Puttoc von Stanggrund wahrgenommen hatte. Er hatte dunkle Haut, einen grausamen Zug um den Mund und eisblaue Augen unter dichten, schwarzen Augenbrauen. Nein, Abt Put-toc von Stanggrund war kein Mann, den Fidelma anziehend gefunden hätte, auch wenn sie sich vorstellen konnte, daß er auf manch andere Frau reizvoll wirkte. Abt Puttoc musterte sie eindringlich -wie eine Katze, die ihre Beute beobachtet, ehe sie zum Sprung ansetzt.
«Wie ich höre, wollt Ihr mir Fragen stellen, Fidelma von Kildare», sagte der Abt mit wohltönender Stimme, der jedoch jede Wärme fehlte. Bruder Eadulf würdigte er keines Blickes. «Der jetzige Zeitpunkt scheint mir dazu bestens geeignet.»
Er bückte sich und trat in Eadulfs Kammer. Mit seiner hochgewachsenen Gestalt überragte er sie alle. Erst jetzt sahen sie den zweiten, vergleichsweise kleinen Mann, der hinter ihm stand: Eanred, Puttocs scriptor und Diener. Er wirkte ruhig und sanft - ein Mann, der in einer Menschenmenge leicht unterging, da er bescheiden auftrat und nicht besonders einprägsame Gesichtszüge besaß. Fidelma erschien er wie Abt Puttocs treuer Schatten.
Fidelma runzelte die Stirn. Puttocs Hochmut und die Einstellung, jeder müsse nach seiner Pfeife tanzen, mißfielen ihr.
«Ich wollte Euch später rufen lassen, Puttoc ...», begann sie, aber der Abt wischte ihren Einwand mit einer ungeduldigen Handbewegung beiseite. «Wir werden die Angelegenheit gleich an Ort und Stelle regeln, denn später habe ich zu tun. Ich habe eine Verabredung mit Bischof Gelasius.»
Während Eanred, die Hände in die Ärmel seiner Kutte geschoben, artig an der Tür stehenblieb, nahm Puttoc ungefragt auf Eadulfs Schlafstätte Platz und sah sie mit seinen eisblauen Augen herausfordernd an.
«Nun, Schwester, was sind das für Fragen, die Ihr mir angeblich so dringend stellen müßt?»
Fidelma sah Eadulf an. Der sächsische Mönch hatte offenbar Mühe, seine Belustigung über Put-tocs anmaßende Art zu unterdrücken. Unter Fidelmas strengen Blicken jedoch beherrschte er sich und setzte eine ernste Miene auf. Er wußte, was die Zornesfalten um Fidelmas Mund bedeuten konnten.
«Sprecht endlich!» befahl Puttoc, der von der Verärgerung, die sein Auftritt auslöste, nichts zu bemerken schien. «Meine Zeit ist kostbar.»
«Das gleiche gilt für unsere Zeit, Puttoc von Northumbrien», entgegnete Fidelma kühl und schluckte die sehr viel gereiztere Antwort hinunter, die ihr auf der Zunge lag.
Der dunkelhäutige Abt zwang sich zu einem verkniffenen Lächeln, das ihn noch finsterer erscheinen ließ.
«Das will ich bezweifeln», sagte er, ohne auf Fidelmas Mißmut zu achten. «Jetzt, da Wighard tot ist, muß ich das Ruder in die Hand nehmen. Es ist völlig klar, daß wir nicht ohne neuen Erzbischof nach Canterbury zurückkehren können, und wer von uns Sachsen ist sonst schon geeignet dafür, den Segen des Heiligen Vaters zu empfangen?»
Fidelma sah den selbstgefälligen, großen Mann voller Erstaunen an. «Ihr seid an Wighards Stelle zum Erzbischof berufen worden?» fragte sie. «Ich bin sicher, Bruder Eadulf hätte mir davon erzählt.»
«Ich weiß nichts ...», begann Eadulf, aber Put-toc ließ sich nicht aus der Fassung bringen, sondern lächelte selbstzufrieden. «Natürlich muß ich dem Heiligen Vater meine Gründe noch erläutern, aber die Entscheidung liegt doch wohl auf der Hand.»
Eadulfs Miene verdüsterte sich. «Aber Wighard wurde zum Nachfolger Deusdedits gewählt .»
Die eisblauen Augen richteten sich auf Eadulf. Sie wirkten kälter denn je. «Und Wighard ist tot. Wer sonst, der hier in Rom weilt, wäre geeignet, seinen Platz einzunehmen? Nennt mir diesen Mann!»
Eadulf schluckte. Ihm fehlten die Worte.
Triumphierend wandte sich der Abt wieder an Fidelma. «Eure Fragen, Schwester.»
Fidelma zögerte, dann zuckte sie die Achseln. Im Grunde konnte sie ihn ebenso gut jetzt befragen wie zu jedem späteren Zeitpunkt, auch wenn dies bedeutete, seinem anmaßenden Gebaren nachzugeben.
«Ich möchte wissen, wo Ihr wart, als Wighard ermordet wurde.»