«Der Abt war sehr aufgeregt, zog sich sofort etwas über und begab sich in Wighards Gemächer, wo bereits viele Leute versammelt waren.»
«Und was habt Ihr getan?»
«Ich ging in meine eigene Kammer nebenan und schlief sofort ein. Ich war müde und hatte bei dem griechischen Medikus viel Wein getrunken.»
«Wart Ihr nicht neugierig, wie Wighard zu Tode gekommen war?»
Bruder Eanred zuckte die Achseln. «Wir sterben alle irgendwann.»
«Aber Wighard ist ermordet worden.»
Das Gesicht des Mannes blieb ohne jede Regung. «Bruder Sebbi hat mich gebeten, dem Abt mitzuteilen, daß Wighard tot ist. Das war alles.»
«Ihr wußtet also nicht, daß er ermordet wurde?»
«Jetzt weiß ich es, Schwester. Jetzt, wo Ihr es mir sagt. Kann ich jetzt gehen? Der Abt erwartet mich in seinem Zimmer.»
Fidelma sah Bruder Eanred eindringlich an. Dann sagte sie leise: «Also, gut. Ihr könnt gehen.»
Der Mönch neigte den Kopf und verließ den Raum.
Fidelma wandte sich fragend zu Eadulf und Licinius um. Ersterer lächelte und schüttelte den Kopf.
«Tja ... Ein einfacher Mann mit schlichtem Gemüt. Da kommt es mir doch etwas seltsam vor, daß Cornelius ausgerechnet seine Gesellschaft suchte, um mit ihm über Kunst zu plaudern und Wein zu trinken.»
«Hört sich ganz so an, als sei das Gespräch ziemlich einseitig verlaufen», stimmte Fidelma zu. «Aber es gibt genug Menschen, die sich selbst gern reden hören und denen es gleichgültig ist, ob daraus ein Dialog oder ein Monolog wird. Vielleicht gehört unser Freund Cornelius auch zu dieser Sorte.»
«Abt Puttoc ist nicht gerade eine Zierde der Christenheit», bemerkte Furius Licinius, der bisher geschwiegen hatte.
«Wie wahr! Er ist ehrgeizig, übereifrig ...» Fidelma hielt inne. «Ich frage mich, wie ehrgeizig .?»
Eadulf sah die irische Geistliche zweifelnd an.
«Kommt, Fidelma. Ihr vergeßt Bruder Ronan Ragallach. Ihr wollt den Abt von Stanggrund doch nicht ernsthaft des Mordes an Wighard von Can-terbury verdächtigen?»
Fidelma lächelte. «Ich habe Ronan nicht vergessen, Eadulf, aber was seine Rolle in der ganzen Angelegenheit betrifft, will ich mich lieber noch nicht festlegen. Es sind noch zu viele Fragen offen.»
Auf Furius Licinius’ jungem, edlem Gesicht spiegelte sich wachsende Ungeduld. «Wollt Ihr Bruder Ronans Unterkunft auch noch sehen?» erkundigte er sich.
«Gleich, Licinius. Zuvor möchte ich alle Zimmer auf diesem Stockwerk prüfen. Daß wir hier bei Bruder Eadulf nichts gefunden haben, heißt nicht, daß wir die anderen Zimmer unberücksichtigt lassen sollten.»
«Aber sie waren zur Tatzeit alle bewohnt.» Licinius fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut.
«Eben nicht», erwiderte Fidelma. «Wir haben gerade von Eanred gehört, daß seine Kammer leer war. Er ist erst nach dem Mord in den Palast zurückgekehrt.»
«Ihr wollt wirklich alle Zimmer durchsuchen?» fragte Eadulf schmunzelnd. «Puttocs Zimmer auch?»
Furius Licinius machte ein unglückliches Gesicht.
«Sein Zimmer liegt im gleichen Stockwerk am Ende des Korridors. Aber niemand würde den Abt verdächtigen .»
Fidelma seufzte ärgerlich. «Wenn ich in dieser Sache erfolgreich ermitteln soll, muß ich alle Tatsachen kennen», wies sie den jungen Offizier zurecht. «Trotzdem werde ich in die Irre geführt. Erst sagt man mir, es habe eine Durchsuchung gegeben, dann muß ich feststellen, daß Wighards Gemächer gar nicht durchsucht worden sind. Und etwas später heißt es, nicht alle Räume auf diesem Stockwerk seien durchsucht worden, sondern nur die, von denen Ihr dachtet, sie seien in der fraglichen Nacht leer gewesen.»
Ihre Heftigkeit ließ den jungen tesserarius erbleichen.
«Es tut mir leid, aber das lag in der Verantwortung des decurion ...» Als er erkannte, daß er damit bloß die Schuld auf andere schob, hielt er bedrückt inne. «Ich dachte nur ...»
«Das Denken könnt Ihr getrost mir überlassen», unterbrach ihn Fidelma. «Sagt mir nur die Wahrheit, nicht mehr und nicht weniger.»
Furius Licinius trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. «Trotzdem könnt Ihr nicht einfach so Abt Puttocs Zimmer durchsuchen. Er ist . nun ja, er ist Abt eines Klosters .»
Das nicht sehr damenhafte Schnauben, das Fidelma daraufhin von sich gab, sagte mehr als deutlich, was sie von dieser Begründung hielt. Furius Licinius sah sich gezwungen, eine andere Ausrede zu finden.
«Außerdem war er zur fraglichen Zeit in seinem Zimmer. Der Mörder kann dort nichts versteckt haben, er hätte den Abt geweckt .»
Fidelma wandte sich an Eadulf. «Schaut nach, ob Puttoc und Eanred inzwischen zu ihrem Treffen mit Bischof Gelasius gegangen sind. Falls ja, werden wir ihre Zimmer jetzt gleich in Augenschein nehmen.»
Furius Licinius war entsetzt. «Aber .»
«Wir haben die Befugnis, tesserarius», fiel ihm Fidelma ins Wort. «Muß ich Euch erst daran erinnern?»
Eadulf ging hinaus auf den Flur und kam wenig später wieder. «Sie sind fort», berichtete er.
Es dauerte nicht lange, Abt Puttocs Zimmer zu durchsuchen. Aber sie gewannen daraus lediglich die Erkenntnis, daß Puttoc den Annehmlichkeiten des Lebens nicht abgeneigt war. Bei einem frommen Kirchenmann hätte Fidelma eigentlich eine karge, schlichte Kammer erwartet. Puttoc hingegen hatte die Zeit in Rom anscheinend vor allem dazu genutzt, sich für die Zeit im Kloster mit einem Vorrat von Luxusgegenständen einzudecken. Allerdings wies nichts daraufhin, daß in diesem Zimmer ein Teil des Inhalts von Wighards Schatztruhe versteckt worden war.
Abt Puttocs Zimmer hatte ein Fenster, von dem aus man in den hinteren Innenhof schauen konnte. Darunter befand sich ein schmaler Sims, der rings um das gesamte Gebäude verlief. Er war mehrere Zoll breit, aber zu schmal, um als Versteck zu dienen.
«Und Eanreds Zimmer ist gleich nebenan?» fragte Fidelma gereizt.
Licinius nickte stumm. Er hatte wenig Lust, Fidelmas Zorn durch eine falsche Antwort weiter anzustacheln. Noch nie war er einer Frau begegnet, die Männer herumkommandierte und zurechtwies, wie es diese Irin tat.
Gemeinsam traten sie in die Kammer des Geistlichen. Sie war karg und schlicht, und außer dem sacculus, in dem Bruder Eanred seine wenigen Habseligkeiten - ein zweites Paar Sandalen, etwas Unterwäsche und Rasierzeug - aufbewahrte, enthielt sie kaum etwas von persönlichem Wert.
Die Hände vor dem Bauch gefaltet, stand Fidelma da und ließ den Blick durch Eanreds Kammer schweifen. Dann ging sie zum Fenster und sah hinaus. Es lag im rechten Winkel zum nächsten Gebäude, in das es vom domus hospitale keinen direkten Zugang gab. Ihr fiel sofort auf, daß die Steine und der Putz dieses Gebäudes sehr viel neuer wirkten, es folglich erst später errichtet worden war. Der Sims unter dem Fenster setzte sich allerdings auch am Nebenflügel fort, wo der Baumeister ihn jedoch sehr viel großzügiger bemessen hatte: Er war dort einen ganzen Fuß breit und von Bruder Eanreds Fenster aus leicht zu erreichen.
«Seht Ihr?» fragte Eadulf hinter ihr. «Ich glaube, Furius Licinius hat recht. Wir verfolgen die falsche Fährte.»
«Eanreds Kammer ist ziemlich spartanisch eingerichtet.» Fidelma wandte sich zu ihm um.
«Offenbar liebt Eanred das einfache Leben», stimmte Eadulf zu und ging mit Furius Licinius zurück auf den Flur. Fidelma hielt noch einen Moment lang inne, dann folgte sie den beiden. Eadulf hatte wahrscheinlich recht: Vielleicht sah sie ja schon Gespenster. Allerdings wurde sie das seltsame Gefühl nicht los, daß ihr etwas entgangen war.
«Bleiben noch die Zimmer von Ine und Sebbi», sagte sie und schloß die Tür zu Eanreds Kammer hinter sich.
In diesem Augenblick fiel ihr Blick auf den Rahmen der Tür. Etwa drei Fuß über dem Boden war das Holz gesplittert. Ein winziges Stück Stoff, ein kleiner, ausgefranster Streifen, war irgendwo abgerissen und an dem Splitter hängengeblieben.