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Sie beugte sich vor, um ihn abzunehmen.

«Was ist das?» fragte Eadulf, der sie beobachtet hatte.

Sie schüttelte den Kopf. «Ich bin mir nicht sicher. Ein Stück Sackleinen vielleicht.»

Sie nahm den Stoff zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt ihn gegen das Licht.

«Ja, ein Stück Sackleinen», bestätigte Eadulf.

«Was hat das zu bedeuten?» fragte Furius Licinius.

«Das kann ich noch nicht sagen», erwiderte Fidelma.

«Vielleicht hat jemand etwas in einem Sack in Eanreds Zimmer geschleppt, der Stoff hat sich an dem Splitter verhakt, und es ist ein Stück abgerissen.»

Eadulf sah sie aufmerksam an und versuchte, ihre Gedanken zu lesen. «Soll das heißen, daß der Schatz in Eanreds Zimmer versteckt worden ist?»

Eadulf hatte aus Fidelmas Überlegungen schon immer rasche Schlüsse ziehen können.

«Ich erklärte doch schon, daß ich das noch nicht sagen kann», erwiderte Fidelma sanft. «Nur ein schlechter Richter zieht frühzeitige Schlüsse, ehe er alle verfügbaren Hinweise gesammelt und gegeneinander abgewogen hat.»

«Aber das wäre doch eine Erklärung», beharrte Furius Licinius, eifrig darauf bedacht, etwas zur Sache beizutragen. Er hatte das dringende Bedürfnis, die durch die nachlässige Durchsuchung ins Wanken geratene Ehre der custodes zu retten. «Eanred hat selbst gesagt, daß er erst zurückgekehrt ist, als man Wighards Leiche schon entdeckt hatte, also nach Ronan Ragallachs Verhaftung. Vielleicht hat Ronan die Beute in die Kammer geschafft, während Eanred noch fort war?»

Fidelma lächelte spöttisch.

«Meint Ihr wirklich, Ronan Ragallach hätte zwei Säcke mit Diebesbeute in Eanreds Kammer versteckt, bevor er von den custodes verhaftet wurde? Was ist dann aus den Säcken geworden?»

Licinius preßte die Lippen zusammen.

«Ich habe ja schon gesagt, daß er vielleicht einen Komplizen hatte», murmelte er.

«Ja, das stimmt. Wir werden später noch darüber sprechen. Jetzt laßt uns erst einmal Bruder Sebbis Zimmer durchsuchen», entgegnete Fidelma.

«Aber das Sackleinen?» fragte Eadulf und sah zu, wie sie es in ihrem marsupium, einem großen Umhängebeutel, verschwinden ließ.

«Der weise Richter sammelt nach und nach alle Beweisstücke», erklärte Fidelma lächelnd. «Erst wenn alle Stücke beisammen sind, versucht er - wie ein Handwerker, der ein kunstvolles Mosaik schafft - daraus vor seinem geistigen Auge ein Muster zusammenzusetzen und hie und da noch ein Stückchen einzufügen, bis sich allmählich ein stimmiges Bild ergibt. Nur ein schlechter Richter erliegt der Versuchung, ein Beweisstück herauszugreifen und daraus ein Gesamtbild ableiten zu wollen. Wer weiß? Vielleicht hat dieses Stück Stoff mit der Aufklärung unseres Falls gar nichts zu tun.»

Mit einem schelmischen Augenzwinkern schaute sie zu ihm auf, machte dann kehrt und ging den Flur hinunter. Weder in Bruder Sebbis noch in Bruders Ines Kammer konnten sie etwas Verdächtiges entdecken, so daß Fidelma auf ihren ursprünglichen Plan zurückkam, Ronan Ragallachs Unterkunft in Augenschein zu nehmen.

Eadulf wechselte einen kurzen Blick mit dem verdrossenen jungen tesserarius, ehe er ihr folgte. Was ihn betraf, war die Sache ziemlich klar, und es gab keinen Grund für weitere mühselige Ermittlungen. Ronan Ragallach hatte Wighard offenbar aus Habgier umgebracht, und es war ihm gelungen, den Schatz noch vor seiner Festnahme zu verstecken. Nach seiner Flucht aus dem Wachhaus war er wohl längst wieder in den Besitz seiner Beute gelangt und hatte - wenn er auch nur ein Fünkchen Verstand besaß - die Stadt inzwischen möglichst weit hinter sich gelassen.

Als sie über die vordere Treppe hinunter in den Innenhof vor dem domus hospitale kamen, sahen sie Abt Puttocs hochgewachsene Gestalt am Brunnen stehen. Doch es war die junge Frau neben ihm, die Fidelmas Blick auf sich zog, so daß sie wie angewurzelt auf der Schwelle verharrte. Eadulf und Fu-rius Licinius wären fast mit ihr zusammengestoßen. Die schmächtige Schwester Eafa zitterte wie Espenlaub und hatte die Stimme in tränenreicher Verzweiflung erhoben. Aus der Entfernung sah es so aus, als versuchte der Abt, sie mit Worten und Gesten zu beruhigen, doch Eafa wandte sich plötzlich um und stürzte durch einen der schmalen Gänge davon, ohne Schwester Fidelma und ihre Begleiter zu bemerken.

Abt Puttoc blickte ihr noch eine Weile betreten nach. Dann wandte er sich um und sah Fidelma, Eadulf und Furius Licinius in der offenen Tür zum domus hospitale stehen. Ohne ein Zeichen des Wie-dererkennens machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand raschen Schrittes im Nachbargebäude.

«Offenbar hat unser stolzer Abt die arme Schwester Eafa völlig aus der Fassung gebracht», sagte Fidelma. «Worum es wohl bei diesem Disput ging?»

«Jedenfalls wäre es nicht das erste Mal», bemerkte Eadulf grimmig.

Fidelma sah ihn erstaunt an. «Was meint Ihr damit, Eadulf?»

«Als ich gestern morgen vom Refektorium zurückkam, vernahm ich laute Stimmen aus Puttocs Zimmer. Ich war schon in meiner Kammer und gerade dabei, die Tür hinter mir zu schließen, als ich hörte, wie Puttocs Tür aufging. Neugier übermannte mich, und ich ließ meine Tür einen Spaltbreit offen, um zu sehen, was nebenan vor sich ging. Jedenfalls stürmte Schwester Eafa mit verrutschter Haube und zerknitterter Tracht aus Puttocs Zimmer, als ob ihr der Leibhaftige erschienen sei. Dann lief sie den Flur entlang und die Treppe hinunter.»

«Habt Ihr Puttoc auf den Vorfall angesprochen?»

Eadulf preßte die Lippen zusammen. Seine Wangen röteten sich. «Ich habe meine eigenen Schlüsse gezogen. Durch entsprechende Andeutungen hat man mir schon öfter zu verstehen gegeben, daß Puttoc bei den Frauen einen gewissen Ruf genießt. Die Lehre Roms schreibt zwar den Zölibat für Äbte und Bischöfe vor, aber ich fürchte, in dieser Hinsicht ist Puttoc eher den Lehren der Kirche Columbans zugeneigt.»

Fidelmas Augen verengten sich.

«Wohl kaum der passende Leumund für einen Mann, der den Ehrgeiz hat, in die Fußstapfen Augustins von Canterbury zu treten. Wollt Ihr damit sagen, Puttoc sei dafür bekannt, Frauen seine Aufmerksamkeiten aufzuzwingen?»

Eadulfs Gesichtsausdruck war eigentlich Antwort genug, dennoch sagte er: «So habe ich es jedenfalls gehört.»

«Gibt es in den sächsischen Königreichen denn keine Gesetze gegen Vergewaltigung?» fragte Fidelma entsetzt.

«Nicht für die Armen», erwiderte Eadulf.

«Unser Fenechus-Gesetz schützt die Frauen nicht nur vor Vergewaltigung. Auch dann, wenn ein Mann zum Beispiel eine betrunkene Frau zum Geschlechtsverkehr verleitet, wird der Vorwurf ebenso ernst genommen. Unser Gesetz schützt alle Frauen. Schon wenn ein Mann es wagt, eine Frau gegen ihren Willen zu küssen oder auch nur zu berühren, kann er zu einer Strafe von zweihundertvierzig Silber- screpall verurteilt werden.»

Eadulf wußte, daß der screpall zu den wichtigsten Münzen gehörte, die in Irland im Umlauf waren.

«Vielleicht gebe ich aber auch allzu leichtfertig irgendwelchen Klatsch wieder», sagte er, von Fidelmas Heftigkeit unangenehm berührt. «Ich habe die ganze Geschichte von Sebbi gehört.»

«Und ob den Absichten Bruder Sebbis zu trauen ist, sei noch dahingestellt», meinte Fidelma. Sie schien eine weitere Bemerkung machen zu wollen, besann sich aber eines Besseren und sagte statt dessen: «Kommt, Furius Licinius, zeigt uns den Weg zu Ronan Ragallachs Unterkunft.»

«Dazu müssen wir zu einer Herberge unter einer der Bögen der Aqua Claudia gehen», erklärte Licinius, der dem Gespräch zwischen Fidelma und Eadulf gebannt gelauscht hatte.

«Ist das weit?» fragte Fidelma.

«Nein, im Gegenteil, es ist ganz in der Nähe», sagte Licinius. «Sicherlich habt Ihr den Aquädukt schon gesehen. Die große, unter dem berüchtigten Kaiser Caligula vor über sechshundert Jahren erbaute Wasserleitung bringt Wasser von einer achtundsechzig Kilometer entfernten Quelle in der Nähe von Sublaquea in die Stadt.»