Fidelma hatte den Aquädukt tatsächlich schon gesehen und die Größe des Bauwerks bewundert. In Irland gab es nichts Vergleichbares, aber die irischen Königreiche waren auch reichlich mit Wasser versorgt, und es gab keinen Grund, den Verlauf von Flüssen oder Quellen zu verändern, um damit dürre Gegenden fruchtbar zu machen.
«Die Herberge gehört Diakon Bieda», erklärte Furius Licinius weiter. «Ich muß Euch warnen, Schwester, es ist eine sehr billige und schäbige Unterkunft, die nicht unter der Aufsicht von Geistlichen steht. Auf die Empfindsamkeiten gläubiger Frauen wird dort wenig Rücksicht genommen, wenn Ihr versteht, was ich meine.»
Fidelma sah den jungen Mann mit ernster Miene an.
«Ich glaube, ich verstehe, was Ihr meint, Furius Licinius», entgegnete sie. «Aber wenn der Eigentümer tatsächlich ein Diakon der Kirche ist, verstehe ich nicht, wie es dazu kommen konnte.»
Licinius zuckte mit den Achseln. «In Rom ist es einfach, Vergünstigungen käuflich zu erwerben. Der Titel eines Diakons gehört dazu.»
«Dann werde ich mein Bestes tun, um mich von etwaigen Anstößigkeiten nicht aus der Fassung bringen zu lassen. Und jetzt sollten wir uns auf den Weg machen, denn ich habe wenig Lust, das Abendessen zu verpassen, das sicherlich bald aufgetragen wird.»
IX
FURIUS LICINIUS FÜHRTE SIE DURCH
die vielen Innenhöfe und Gärten des Lateranpalasts, bis sie schließlich auf dem Celius-Hügel durch ein Seitentor nach draußen traten. Selbst Fidelma war von den ausgedehnten Anlagen beeindruckt, und Licinius genoß es, sein Wissen unter Beweis stellen zu können.
«Das ist das Sancta Sanctorum», sagte er und zeigte auf einen kleinen, aber hoch aufragenden Kirchenbau, «die private Kapelle des Heiligen Vaters mit der Scala Santa, der Treppe, die unser Herr Jesus Christus nach seiner Verurteilung im Haus des Statthalters Pilatus hinunterging.»
Fidelma sah in zweifelnd an. «Aber Pilatus’ Haus stand doch in Jerusalem», entgegnete sie.
Licinius grinste zufrieden: Er wußte etwas, wovon Fidelma offenbar keine Ahnung hatte.
«Die heilige Helena, die Mutter des großen Konstantin, hat die Treppe von Jerusalem nach Rom gebracht. Sie besteht aus achtundzwanzig Stufen aus tyrianischem Marmor, die selbst der Heilige Vater nur auf Knien erklimmen darf. Helena fand die Treppe zur gleichen Zeit wie das wahre Kreuz, das in Golgatha vergraben war - das Kreuz, an dem der Erlöser gelitten hat.»
Fidelma hatte die Geschichte von dem dreihundert Jahre zurückliegenden Fund des echten Kreuzes schon vorher gehört. Sie bezweifelte, daß ein einfaches Holzkreuz sich so eindeutig zuordnen ließ, wagte aber nicht, ihre Einwände zu äußern. «Ich habe gehört, daß die fromme Helena ganze Schiffsladungen mit Reliquien aus dem heiligen Land nach Rom geschickt hat, darunter sogar Holzreste aus der Bundeslade», sagte sie statt dessen. Licinius blickte ernst. «Wenn Ihr möchtet, kann ich sie Euch gerne zeigen, Schwester. Wir sind sehr stolz auf die heiligen Reliquien, die hier im Lateranpalast aufbewahrt werden.»
In seinem Eifer wäre er am liebsten sofort umgedreht, um ihr die wertvollen Schätze vorzuführen. Fidelma legte eine Hand auf seine Schulter. «Später vielleicht, Furius Licinius. Alles der Reihe nach. Jetzt nehmen wir erst einmal Ronan Ragal-lachs Unterkunft unter die Lupe.»
Licinius errötete heftig, als er erkannte, daß er sich von seiner jugendlichen Begeisterung hatte hinreißen lassen. Er deutete auf einen Bogen des Aquädukts auf der anderen Seite des Platzes.
«Dort steht die Herberge, die Bieda gehört.»
Das kleine Haus im Schatten einer der eindrucksvollen Steinbögen des großen Aquädukts wirkte schäbig und heruntergekommen.
Ein einsamer custos hielt Wache vor Biedas Haus.
«Er paßt auf, falls Ronan Ragallach versucht zurückzukehren», erklärte Furius Licinius, während er sie in das schmuddelige Gebäude führte.
Fidelma schnaubte verächtlich. «Ich glaube kaum, daß Bruder Ronan so dumm sein wird. Bestimmt weiß er, daß man ihn hier als erstes suchen wird.»
Licinius reckte trotzig sein Kinn. Er hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, daß eine Frau ihn tadelte oder ihm Befehle erteilte. Zwar hatte er schon vorher von den Frauen in Irland, Gallien und Britannien gehört, die soviel mehr Befugnisse und Rechte besaßen als die römischen Frauen, die sich in Bescheidenheit übten und sich hauptsächlich im Haus aufhielten. Und doch empfand er es als erniedrigend, von einer Frau, dazu noch von einer Fremden, herumkommandiert zu werden. Aber superista Marinus, sein oberster Dienstherr, hatte seinen Standpunkt klargemacht: Furius mußte dieser Frau und dem gutmütigen sächsischen Geistlichen gehorchen.
Als sie gerade die Stufen im dunklen Hausflur emporsteigen wollten, stürmte eine Frau mittleren Alters aus einem Zimmer im Erdgeschoß. Beim Anblick von Licinius’ Uniform stieß sie einen Schwall wüster Beschimpfungen aus. Da sie in dem seltsam kehligen Akzent der römischen Straßen sprach, verstand Fidelma kaum ein Wort. Doch es gab keinen Zweifel daran, daß es sich nicht um Schmeicheleien handelte. <Ad malam crucem!> beendete die Frau ihren zornigen Wortschwall.
«Warum ist sie so erbost?» wollte Fidelma wissen.
Doch ehe Licinius antworten konnte, hatte sich die Frau schon an ihm vorbeigedrängt und sprach nun direkt Fidelma an, wobei sie ihr Sprechtempo etwas verlangsamte, damit der Fremden auch keine Silbe entging.
«Und wer bezahlt mir das leere Zimmer? Der fremde Bruder kommt nicht wieder, und seine Schulden wird er mir wohl auch nicht bezahlen. Es ist einen Monat her, daß ich die letzte Miete von ihm erhalten habe. Und das bei den Scharen von Pilgern in Rom! Ich habe ein leeres Zimmer und kann es nicht vermieten, bloß weil dieser catalus vulpinus es so befohlen hat!»
Fidelma lächelte spöttisch. «Beruhigt Euch. Ich bin sicher, Ihr werdet für den Mietausfall entschädigt. Wenn wir mit unserer Untersuchung fertig sind und Bruder Ronan nicht zurückkehrt, werdet Ihr die Sachen, die er zurückgelassen hat, doch sicherlich verkaufen können.»
Fidelmas höhnischer Tonfall schien der Frau nicht zu gefallen.
«Soll das Euer Ernst sein?» keifte sie. «Ich habe noch nie einem irischen Pilger ein Zimmer vermietet, der mehr besessen hätte als die Kleider, die er am Leibe trug. Der Mann hatte kein Geld, und in seinem Zimmer gibt es nichts, das sich verkaufen ließe. Seinetwegen werde ich noch am Hungertuch nagen!»
«Wahrscheinlich habt Ihr bereits dafür gesorgt, daß es in seinem Zimmer nichts Lohnendes mehr gibt?» fragt Fidelma mit drohendem Unterton.
«Natürlich habe ich ...»
Die Frau hielt erschrocken inne.
Furius Licinius runzelte die Stirn. «Euch wurde befohlen, das Zimmer nicht zu betreten», tadelte er.
Die Frau reckte trotzig das Kinn. «Ihr habt es leicht, solche Befehle zu erteilen. Ich wette, Ihr habt noch nie eine Mahlzeit ausfallen lassen müssen.»
«Habt Ihr nun etwas aus Bruder Ronan Ragal-lachs Zimmer entfernt oder nicht?» hakte Fidelma nach. «Sprecht die Wahrheit. Alles andere würdet Ihr ohnehin nur bereuen.»
Erschrocken sah die Frau Fidelma an. «Ich habe nichts angerührt .»
Ihre Stimme erstarb unter Fidelmas strengen Blick, und sie senkte die Augen.
«Auch ich will überleben, Schwester. Die Zeiten sind schlecht. Ich muß an mein Auskommen denken.»
«Bruder Eadulf, begleitet diese Frau, und laßt Euch alles geben, was sie aus Ronan Ragallachs Zimmer entwendet hat. Und Ihr, Frau, denkt daran, wenn Ihr nicht ehrlich seid, wird dies früher oder später ans Tageslicht kommen, und Lügen haben nicht nur in dieser Welt harte Strafen zur Folge.»